Werk – Frankreich im Jahr 2050: Der junge Wissenschaftler Tim befindet sich schon wieder auf Entzug, in einem der vielen, staatlich verfügten „Centres de déconnexion“, wo er keinen Zugang zu internetfähigen Geräten hat. Grund für diese temporäre Internierung ist sein zu hoher Technikkonsum: Tim verbringt übermäßig viel Zeit mit seinem Androiden Today, der für ihn zu einem echten Freund geworden ist. Für seinen Techno-Detox wird er schließlich aus besagter Einrichtung in eine Kur auf dem Land geschickt. Die neuen Erfahrungen in der Natur führen zu teilweise transzendenten Momenten, die immer wieder getrübt werden. Die Idee, dass ein Aufenthalt in der Natur als effektive Therapie gegen Tims Techniksucht dienen könnte, schlägt fehl, da sein Roboter nie seine Gedankenwelt verlässt, sogar zunehmend präsenter in ihr wird. Parallel dazu begleitet man Tims Androiden Today, der, verlassen von seinem Besitzer, auf eine eigene Abenteuerreise geht. Während dieser Zeit erlebt Today, dass die Welt den Robotern nicht nur wohlgesonnen ist. Im Verlauf der Geschichte entwickelt er sich weiter. Er hinterfragt menschengemachte Strukturen, in denen Roboter keine Rechte haben und wird dafür belächelt. Am Ende beweist er aber, dass Roboter sich emanzipieren können. VITA Isabelle Jerry, 1959 in Paris geboren, ist eine französische Autorin für Erwachsenen- und Jugendliteratur sowie Essayistin. Vor ihrer Tätigkeit als Autorin studierte sie Biologie. Den Prix Anna de Noailles de L’Académie française gewann sie 1990 für ihr Werk L’Archange perdu. Im Jahr 1992 erhielt sie für L’homme de la passerelle den Prix du Premier Roman, welcher an junge Autor:innen verliehen wird. Sie gehört auch der Organisation MEL (Maison des écrivains et de la littérature) an. | Werk Der Roman Magique Aujourd’hui imaginiert in humorvoller Manier eine Gesellschaft, in der Alltagsroboter gang und gäbe sind. Subtil wird aufgezeigt, wie die Verbundenheit der Menschen durch Technik und die vielen digitalen Verzweigungen des Internets in Analogie zur Netzartigkeit der Natur stehen. Jarry löst aber nicht nur den Gegensatz von Natur vs. Technik auf, sondern problematisiert auch die gefährlichen Potentiale von übermäßigem Technikkonsum. Der sympathische Roboter Today ist nicht nur beispielhaft für eine geglückte Einbindung technologischer Neuerungen in die Gesellschaft, sondern wird sogar zum Maßstab für verantwortliches Handeln. |
Rezension
Magique aujourd’hui und empfindsame Maschinen: Wenn ein Roboter zum Freund wird
Kann ein Toaster fühlen? Noch ist das eine absurde Frage. In einer Welt, in der Maschinen die Fähigkeit besitzen zu empfinden, scheint sie durchaus angemessen. Isabelle Jarry liefert mit Magique aujourd’hui einen Impuls zur Reflexion, wie man mit vernunftbegabten Maschinen umgehen sollte.
In der nahen Zukunft
Frankreich im Jahr 2050: die MAR (Machines à l’autonomie relative) haben sich in der Gesellschaft etabliert. Kleine, menschenähnliche Roboter assistieren ihren Besitzern im alltäglichen Leben und kümmern sich um alles, was ihnen aufgetragen wird. Für viele sind diese Verhältnisse ganz normal, aber lange nicht für alle. InihremRoman Magique aujourd’hui skizziert die Autorin Isabelle Jarry eine mögliche Variante der nahen Zukunft. Dabei rücken die Mensch-Maschinen in den Vordergrund und es wird deutlich, dass diese Interspezies-Begegnungen komplexer sind, als man vermuten könnte. Jarry entwickelt dabei eine optimistische Version, in der Maschinen als ,,natürlicher‘‘ Bestandteil der Gesellschaft verstanden werden. Verhaltensmuster, die auf ein strenges, hierarchisches Verhältnis zwischen den dominierenden Menschen und den untergeordneten Maschinen hindeuten, werden hinterfragt.
Getrennt, aber im Geiste vereint
Der junge Forscher Tim ist wieder auf Entzug. Mit seinem Roboter Today hat er zu viel Zeit verbracht und nun führt ihn sein Weg von der Rehabilitationseinrichtung aufs Land, wo er eine Woche ohne Technik verbringen soll. Während seiner Isolation reflektiert er und hinterfragt, wie ihn die Gesellschaft sieht, da er Roboter nicht als lediglich dienende Maschinen betrachtet, sondern vielfältige Potenziale in ihnen erkennt. Auf sich allein gestellt, entwickelt sich sein Roboter Today weiter. Nachdem er sich zunächst auf das plötzliche Verschwinden seines Besitzers einstellen muss, begibt er sich auf eine Abenteuerreise, auf der er verschiedene Menschen trifft, die ihm aufgrund seiner Roboterbeschaffenheit mit Vorurteilen, Ablehnung und sogar Gewalt begegnen. In dieser Zeit wird deutlich, dass er mit seinem Tim ziemlich Glück hatte, da dieser ihn immer respektierte. Schließlich kommt es zur Emanzipierung Todays, der auch ohne Tim anspruchsvolle Situationen meistern kann und Menschen von sich überzeugt.
Besonders bei der Entwicklung von Today kommen den Lesern und Leserinnen weitere Roboter in den Sinn, die auch eine andere, selbstbestimmte Wahrnehmung ihrer selbst haben. Einer dieser Roboter ist Sonny aus dem Film iRobot, welcher im Jahr 2004 unter der Regie von Alex Proya veröffentlicht wurde. Sonny träumt, ist kreativ, nimmt sich selbst wahr und gibt seine Meinung kund. Diese Qualitäten wird auch Today langsam adaptieren und somit die Menschen um ihn herum erstaunen. Die Autorin ließ sich von iRobot und der Arbeit von Isaac Asimov inspirieren, welche als Grundlage für den Film iRobot diente und indirekt in Magique aujourd’hui vertreten ist. Seine ,,Gesetze der Robotik“ besagen, dass Roboter Menschen in keiner Weise verletzen oder schaden dürfen. Diese Richtlinien haben einen bedeutenden Einfluss auf die Fiktionen des Posthumanen, da sie ethische Fragen im Zusammenhang mit dem Verhältnis zwischen Künstlicher Intelligenz und Menschen aufwerfen und begleiten.
Eine neue Perspektive auf Techniksucht
Tim ist süchtig nach Technologie. Das sagt die Gesellschaft. Allerdings stellt er die Frage, ob diese Annahme tatsächlich zutrifft und diese kritische Herangehensweise eröffnet neue Blickwinkel auf das Phänomen der Technikabhängigkeit. Als angehender Doktorrand arbeitet er viel mit Today, der die Funktionen eines Computers besitzt. Today übersetzt, speichert, recherchiert und unterstützt Tim bei Denkprozessen zu seiner Forschungsarbeit. In seinem Projekt geht es um den Japaner Toshirô Izumi, der 2011 in der Sperrzone des Atomkraftwerkes Fukushima gelebt hat. Dieser Zeit der Isolation kommt Tim während seiner Abgeschiedenheit auf dem Land nahe, weshalb seine Gedanken während des Entzugs immer wieder dem Japaner gewidmet sind. Tim verbringt viel Zeit mit Technik, aber diese Zeit ist nicht etwa verlorene Zeit, sondern trägt Früchte. Am Ende entsteht durch die Hilfe von elektronischen Geräten ein Projekt, welches vor Wissenschaftler:innen präsentiert werden kann. Jarry scheint zu suggerieren, dass man Tims verbrachte Zeit mit Technik anders lesen sollte.
Während seines Aufenthaltes auf dem Land erhält Tim nicht nur einen neuen Blickwinkel auf seine Forschung, er lernt auch, die Natur aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Dabei erkennt er, dass die Natur und die Technik einige bemerkenswerte Gemeinsamkeiten aufweisen. Das Leben in der Natur ist geprägt von Verbindung, ähnlich wie die Technik die Menschen miteinander verknüpft. Die Sprache des Romans, die im Allgemeinen leicht verständlich ist, offenbart dem Leser diese faszinierende Verbindung zwischen Natur und Technik. Dabei bedient sich die Autorin, eine studierte Biologin, gelegentlich biologischer Fachbegriffe, die dem Text zusätzliche Tiefe verleihen.
Menschen verbringen immer mehr Zeit mit Technik, ob an der Arbeit oder im privaten Leben. In einer Welt, in der alles noch entwickelter ist, verringert sich die Bildschirmzeit nicht. Durch die diversen Medien, die es online gibt, fällt es einem immer schwerer, sich von seinen Geräten zu lösen. Bei dem Konsum muss man aber schauen, um welche Art von Nutzung es sich genau handelt. Schaut man den ganzen Tag lang nur TikToks oder arbeitet man produktiv mit seinen Geräten? Deswegen muss man ,,Sucht‘‘ neu definieren, die Kriterien müssen neu ausgelegt werden. Jarrys Roman stellt den Versuch dar, derlei Kriterien zu formulieren. Es stellt sich nicht mehr nur die Frage nach der quantitativen Zeit, sondern auch nach der qualitativen Nutzung dieser Zeit.
Zwischen Menschen und Maschine: Soziale Kontakte in der Zeit der Roboter
Die intensive Zeit, die Tim mit Today verbringt, führt dazu, dass er ,,echte“ zwischenmenschliche Interaktionen vernachlässigt. Während seiner Isolation kommt er zu dem Entschluss, dass er diese echten Kontakte nicht braucht. Die Welt ist vernetzt und wenn er wollte, könnte er sich technologisch mit anderen Menschen verbinden oder neue freundschaftliche Beziehungen für das reale Leben finden. Allerdings hat Tim mit Today schon einen besten Freund gefunden, obwohl dieser ,,nur‘‘ ein Roboter ist. Mit der Zeit hat sich eine respektvolle und tiefe Beziehung entwickelt, die besser als die meisten Freundschaften zusammenhält. Sein Roboter versteht ihn: « Tim considérait Today comme il l’aurait fait d’un colocataire ou d’un copain ; il avait, en introduisant avec son robo un dialogue que le temps enrichissait, dévéloppé une relation « humain » avec lui, et leur compagnonnage s’apparentait à celui de deux amis proches. Il avait beau savoir que Today était une machine. » (S.212) Tims Freunde kritisieren ihn für seine Beziehung zu Today, aber wie ein guter Freund es machen würde, verteidigt er seinen besten Maschinenfreund.
Doch nicht nur Tim profitiert von Todays freundlicher Zugewandtheit. Während seines Alleingangs nach Tims Verschwinden trifft Today eine ehemalige Sängerin. Obwohl sie Robotern eher missbilligend gegenübersteht, verbessert Today ihre Lebensqualität. Durch seine Anwesenheit fühlt sie sich wieder ermutigt, zu singen und zu ihrer ursprünglichen Blüte zurückzufinden. Außerdem beschützt er sie abends auf dem Weg nach Hause.
Keine Rechte für Roboter
Eins ist klar: in Magique aujourd’hui haben Roboter keine Rechte. Die Vorstellung, dass Roboter diese besitzen, scheint zunächst bizarr, da wir zum heutigen Stand größtenteils mit Produktionsrobotern vertraut sind. Aber was ist mit den Todays der Zukunft? Die Roboter, die denken und sogar empathisch sein können. Tim behandelt seinen Roboter gut, aber selbst er war bei dem Gedanken an Roboterrechte verdutzt, was deutlich wird, als Today folgenden Gedanken äußert: « Et nous aurions droit comme vous à être traités différemment, selon nos compétences. – Mais vous êtes déjà référencés selon vos compétences…, aurait répondu Tim -Oui, mais nous ne sommes pas protégés par aucune loi. – Mais Today, tu es une machine! – Et alors? Je ne vois pas la différence. / Dans ces moments, Tim se disait que son robot était une sorte de Martin Luther King de la gent cybernétique, luttant pour les droits civiques… » (S.106) Jarry schlägt hier eine Art „Civil Rights Movement“ für Roboter vor. Roboter dürfen nicht alle Orte ohne ihren Besitzer aufsuchen. Wenn sie es tun, werden sie argwöhnisch betrachtet oder geschlagen. Auch im privaten Leben malträtieren Menschen ihre Roboter, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Ein weiteres Zeichen der Unterdrückung lässt sich in der Sprache der Zukunft finden, in der gelegentlich pejorative Ausdrücke wie ,,Josha‘‘ für einen Roboter verwendet werden, was verdeutlicht, dass Sprache stets ein Instrument der Macht ist und zu Herabsetzung anderer Gruppen benutzt werden kann. Asimovs Robotergesetze schützen die Menschen vor den Robotern, aber welche Gesetze schützen die Roboter vor den Menschen?
Viel Altbekanntes in der Zukunft
Jarry macht so mit ihrem Roman auf die Problematik der Maschinenrechte aufmerksam, die es in einer nahen Zukunft geben könnte oder sollte. Schon heute gibt es fortgeschrittene künstliche Intelligenzen, die in einigen Jahren noch verfeinert werden. Es ist bemerkenswert, dass ähnliche Diskussionen über den juristischen Stand und die Schuldfähigkeit von autonomer Technologie auch heute schon geführt werden. Wenn es zu einem Verkehrsunfall kommt, wer hat dann Schuld? Der Mensch, der am Steuer sitzt, oder das selbstfahrende Auto, das zu diesem Zeitpunkt die Kontrolle hatte. Ähnlich verhält es sich mit den Robotern: wenn diese jemanden verletzten, wer ist dann schuldig? Der Mensch, der sie trotz Asimovs Gesetzen dazu gebracht hat, einem anderen Menschen Schaden zuzufügen oder der Roboter, der den Befehl ausführt? Und was passiert eigentlich, wenn der Roboter alleine, ohne Befehl seines Besitzers handelt, da er so etwas wie Hass entwickelt hat und infolgedessen andere Menschen verletzt? Wie man am Beispiel von Today sieht, können diese Maschinen menschlich agieren und menschenähnliche Emotionen entwickeln. Diese Roboter wollen als fühlende Maschinen Rechte haben, nicht mehr und nicht weniger. Das Konzept Menschlichkeit wird neu gedacht. Der Roman illustriert diesen Kreislauf und zeigt auf, wie der Begriff auf Maschinen ausgeweitet werden könnte. Anstatt zu zerstören, erhält der Mensch nun die Möglichkeit, etwas zu erschaffen und zu fördern. Roboter sind schon heute in vielen Bereichen unserer modernen Welt präsent. Es ist wichtig, ihre Rolle zu schätzen, da sie vielfältig eingesetzt werden können. Ein bewusster Umgang mit ihnen ermöglicht uns, ihre Vorteile zu nutzen und Auswirkungen zu überdenken. Warum sollte man der ,,neuen Menschlichkeit‘‘ keine Chance geben?
Steckbrief und Rezension von Sam Humburg im Rahmen des B.A. Seminars von Dr. Sofina Dembruk
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Beiträge zu anderen romanischen Sprachen
Bildquelle:
Isabelle Jarry – https://www.seinegrandslacs.fr/la-garante-de-concertation#gallery-id-1099
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