Werk – Michèle ist überzeugt von der Digitalisierung der Seele, der sogenannten „métempsychose numérique“. Nach ihrem Ableben soll ihr Geist in einen eigens dafür vorgesehenen körperlichen Avatar – eine Haushaltshilfe mit sinnlichen Rundungen – überführt werden. Für diese „Transmigration“ hat sie eine geheim agierende Organisation beauftragt. Widerwillen hilft ihr Sohn Raphaël ihr bei diesem mehr als ungewöhnlichen Unterfangen und gibt sich größte Mühe, die posthume Initiative seiner Mutter geheim zu halten. Der beseelte Avatar seiner Mutter zieht bei ihm ein und übernimmt alle Aufgaben im Haushalt. Doch Michèle entwickelt eine Art Kontrollzwang: Sie loggt sich in diverse soziale Netzwerke ein, spioniert ihrem Sohn hinterher und versucht vor allem seine Vorlieben bei der Partnerinnenwahl zu beeinflussen. Die jetzige Partnerin Raphaëls genügt ihr nicht und soll abgesägt werden. Letztlich gelingt es Raphaël auszubrechen und sich aus der mütterlichen Allmacht zu lösen, um seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Er begegnet dabei Jeanne… VITA – Jean-Gabriel Ganascia, 1955 in Limoges geboren, ist Hochschulprofessor für Informatik an der Sorbonne Université (Paris) und Philosoph. Als ausgewiesener Spezialist für Computerethik (CNRS) forscht er im Bereich der KI und der Digital Humanities. 2011 ist er Mitgründer des OBVIL (observatoire de la vie littéraire), das sich den Darstellungen von KI in der Literatur widmet.Neben zahlreichen Sachbuchpublikationen zur tech-nologischen Singularität, Kognitionswissenschaft und zu ethischen Fragen um KI, schreibt er unter dem Pseudonym Gabriel Naëj seinen ersten und einzigen Roman: Ce matin, maman a été téléchargée (2019). 2022 erscheint sein Buch Servitudes virtuelles. | Werk – Mit Ce matin, maman a été téléchargée entwirft Naëj erstmals einen Roman zum Thema der digitalisierten Seele. Auf humorvolle Art imaginiert er das virtuelle Weiterleben einer bereits Verstorbenen, die (sozusagen posthum) dank numerisierter Erinnerungen in der Gegenwart agieren und sich weiterentwickeln kann. Transponiert der Autor mit seinem Incipit Camus‘ L’Étranger in das technologische Zeitalter, so bestimmen Naëjs Expertise im Bereich der KI auch das dichte technische Vokabular des Textes. |
Rezension
Sterben 2.0 – Leben dank digitalisierter Seele
Gabriel Naëjs Roman Ce matin, maman a été téléchargée erzählt von digitalisierten Seelen und einer Mutter-Sohn-Beziehung im Jahr 2048. Auf humorvolle Art und Weise führt er dem Lesenden vor Augen, was passiert, wenn Mutterliebe ewig währt und Menschen nach ihrem Tod digital weiterleben könnten.
Seele als Digitalisat
Der Romanbeginn ist bedeutsam – « Ce matin, maman a été téléchargée. Ou peut-être hier. Je viens de recevoir un texto de la clinique. » – und lässt eine eindeutige Anspielung auf das legendäre Incipit aus Albert Camus‘ L’Étranger erkennen: « Aujourd’hui maman est mort. Ou peut-être hier, je ne sais pas. J’ai reçu un télégramme de l’asile… ». Handlungstechnisch geht es um den Freiheitskampf Raphaëls, dessen Mutter Michèle ihn weiterhin, auch nach ihrem körperlichen Ableben, unter ihrer Kontrolle haben möchte. Ihr gelingt dies indem sie ihre Seele digitalisieren lässt…
Die anfangs getrübte Stimmung aufgrund Michèles Todesfalls geht zeitnah in Spannung und Ungewissheit über, als Raphaël dem Wunsch seiner Mutter folgt und ihre Seele in einen Androiden transmigrieren lässt – der Prozess der sogenannten „metempsychose numérique“. Im weiteren Verlauf entwickelt sich die Stimmung mehr und mehr zu einer Krimi-Atmosphäre. Ce matin, maman a été téléchargée ist der erste und einzige Roman von Gabriel Naëj und thematisch wohl auch der erste seiner Art.
In der Klinik Saint-Paul entnimmt der zwielichtige Dr. Marco Varvogliss Michèles Seele und transmigriert diese in einen Androiden. Dieser medizinische Eingriff muss geheim gehalten werden muss, da Unterfangen dieser Art illegal sind. Die menschliche Seele wird in diesem Bezug als Digitalisat imaginiert, daas dem Menschen entnommen wird und dem Zielort, dem Androiden, eingepflanzt wird: « L’excorporation s’est bien déroulée. Votre mère est transférée. Nous vous attendons pour la translation… La translation? Cela ne veut rien dire. C’est du langage codé. » (S. 9). Raphaël hat Gewissensbisse, ob er dieses Geheimnis seiner Freundin Juliette anvertrauen oder es für sich behalten soll. Nach kurzer Zeit bemerkt er, dass seine Mutter zunehmend anhänglicher und kontrollierender wird und erkennt diese trotz implantierter Seele nicht wieder, was zu immer mehr Konflikten zwischen Mutter und Sohn führt. Durch immer penetranter werdenden Kontrollzwang Michèles kommt Raphaël an einen Punkt, an dem er sich entscheidet, den mütterlichen Avatar im Haus einzuschließen und nach einer Nacht im Hotel bei Juliette einzuziehen. Trotz der räumlichen Trennung beeinflusst Michèle weiterhin sein Leben, indem sie zum Beispiel Juliette über die sozialen Medien zu Ungunsten ihrer Partnerschaft manipuliert. Um sie darauf anzusprechen, kehrt Raphaël nach Hause zurück und trifft dort auf die Herren Lemercier und Enzo von der Cybersicherheit, die dem Verdacht auf illegales Transmigrieren der Seele nachgehen. Im daraus resultierenden Verhör verhilft ihm Michèle zur Rettung. Dies ist insofern heikel, da es eigentlich sie ist, nach der die beiden Kommissare suchen. Als Juliette mitbekommt, dass es sich bei dem Androiden um keinen gewöhnlichen Haushaltsroboter handelt, sondern um eine illegal beseelte Androidin, beendet diese die Beziehung mit Raphaël. Beim Versuch Juliette zurückzugewinnen, lernt er Jeanne kennen. Später kommt es zum Prozess um die illegalen medizinischen Eingriffe, zu denen Raphaël als Zeuge geladen ist. Der Prozess endet damit, dass die beseelte Androidin, und somit auch seine „Mutter“, abgeführt wird. Schließlich endet der Roman unerwartet idyllisch damit, dass Raphaël von Jeannes Schwangerschaft erfährt und mit ihr in die Berge fahren will.
Die Gesellschaft im Roman
Die im Roman beschriebene Gesellschaft ist gespalten, wenn es um digitalisierte Seelen geht:, Grundsätzlich ist das Entnehmen der menschlichen Seele und das Überführen in einen Androiden verboten, doch ein kleiner Teil unterstützt dies. Der Roman spielt im Jahr 2048. Forschung zur numerischen Transmigration scheint zu existieren. Auch die Figur Raymond Kurzweil, von der im Roman erwähnten „société Ray&Terry“, ist eine Anspielung auf den realen Raymond Kurzweil, den Leiter der technischen Entwicklung bei Google, einer der berühmtesten Vertreter des Transhumanismus. Ce matin, maman a été téléchargée erinnert in manchen Punkten an die Serie Black Mirror – be right back (Staffel 2-Episode1, 2016), in der eine Person verstirbt und durch eine künstliche, inkarnierte Intelligenz imitiert werden soll, um die verstorbene Person post mortem möglichst ‚originaltreu’nachzuahmen.
Doch warum sollte man diesen teils Science-Fiction-artigen Roman lesen? Vieles spricht dafür, zum Beispiel, dass der Roman ein neues Thema, nämlich das der numerischen Transmigration, aufgreift und übergeordnete Fragen stellt; wie sich Roboter und künstliche Intelligenz zunehmend in unseren realen Alltag drängen und somit ein durchaus mögliches Zukunftsszenario imaginiert wird. Gleichzeitig jedoch ist der Anfang des Romans durch viele medizinische Fachtermini geprägt und auch der Gerichtsprozess am Ende ist für nicht fachbegeisterte etwas träge und langwierig.
Eine beseelte Androide als Mutter
Durch das Übertragen von Michèles „Seele“ in den Roboterkörper kann dieser auch Emotionen wahrnehmen und ausdrücken, beispielsweise Enttäuschung darüber, dass ihr Sohn Raphaël sie alleine zuhause lässt. Auch das eigenständige Handeln, entgegen dem Willen Raphaëls, z.B. die Beeinflussung in Sachen Partnerinnenwahl, unterstreicht, dass es sich hier nicht um eine gewöhnliche, sondern emotional hoch komplexe und reaktive Maschine handelt. Besonders beängstigend ist dabei nicht nur die unkontrollierbare Omnipräsenz der KI, die sich unverhohlen in alle Netzwerke einhacken kann, sondern auch die Ähnlichkeit mit der „echten“ Michèle: « Je retrouve là, dans la tonalité de sa voix, l’écho de celle de maman; j’entends de ses paroles, les mêmes mots. La perplexité me saisait. » (S. 144) Dieses Zitat zeigt die allgegenwärtige Kontrolle Michèles. Raphaël findet das Verhalten seiner Freundin Jeanne zunehmend merkwürdiger und erkennt in ihrem Reden die Worte seiner Mutter, deren Avatar Raphaël in der Wohnung eingesperrt hat. Michèle beeinflusst als versteckter Algorithmus die Formulierungen und Gedanken Jeannes mit dem Ziel ihren Sohn und seine Partnerin zu entzweien.
Dass die beseelte Androiden-Mutter dabei unentwegt familiäre, bzw. eheliche Konflikte thematisiert, zeugt von technik-inkarnierten Traumata, die von Verlustängsten gezeichnet sind : « Raphaël, tu ressembles trop à Kevin, ton père! Tu es son portrait craché. Comme toi avec ta Juliette, il prenait les prétextes les plus futiles pour s’en aller avec d’autres femmes et me laisser seule… Avec toi, je crains qu’il n’arrive la même chose et que je n’aie plus personne pour s’occuper de moi. » (S. 75)
Dieser etwas eigentümliche Roman, der schon in näherer Zukunft Realität werden könnte, bleibt bislang ein Unikat auf dem Buchmarkt. Die kleineren Herausforderungen, wie etwa der von medizinischen Fachtermini geprägte Anfang oder der etwas träge erzählte Gerichtsprozess, tun der originellen Idee Naëjs keinen Abbruch. Insbesondere die Anspielung auf Camus‘ Incipit aus L’Étranger oder auch die Fiktionalisierung von Raymond Kurzweil sind äußerst gelungen und eröffnen Raum für wichtige Fragen nach den Möglichkeiten des Sterbens im digitalen Zeitalter.
Steckbrief und Rezension von Falk Beuermann im Rahmen des B.A. Seminars von Dr. Sofina Dembruk
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Bildquelle:
Gabriel Naëj – https://twitter.com/Quecalcoatle/status/1093495780302905345
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