Stiliana Milkova


Werk – Stiliana Milkovas Storia delle prime volte wurde 2022 bei Voland veröffentlicht und umfasst 112 Seiten. In zehn kurzen Erzählungen taucht Milkova in die Welt von verschiedenen Personen ein, die als Studentin oder Autor, als Literaturwissenschaftler oder Übersetzerin etwas zu erzählen haben. Wir treffen auf zehn rastlose Protagonisten in der hektischen modernen Welt, stets bemüht, zwischen Sprachen, Kulturen und Ländern ihren eigenen Weg zu finden und ihre Identität zu wahren. Milkova nimmt uns mit auf eine literarische Reise durch die geographischen Stationen ihres eigenen Lebens: von Osteuropa über Italien bis in die USA. Bei Storia delle prime volte handelt es sich um einen italienischsprachigen Roman, verfasst von einer Bulgarin, die in den USA lebt. Die sprachliche und kulturelle Vielfalt ist bei diesen Rahmenbedingungen vorprogrammiert und macht die Besonderheit ihres Werkes aus. Die Unsicherheiten und das Durcheinander der modernen Welt spiegeln sich nicht nur in den Themen der Geschichten, sondern auch in Milkovas Schreibstil. Unvermittelt steigt sie in die Erzählung ein und nimmt den Leser mit in den chaotischen Fluss ihrer Gedanken und damit auf zehn verschiedene Reisen.  

VITAStiliana Milkova ist eine bulgarische Literaturkritikerin, Übersetzerin und Professorin der Komparatistik am Oberlin College in den USA. Ihre Schwerpunkte liegen auf Russland- und Osteuropa-Studien, Literarischem Übersetzen und Gender- sowie Feminismus Studien. Milkova hat u.a. Werke von Adriana Cavarero, Italo Calvino und Alessandro Baricco übersetzt. Außerdem erlangte sie als Autorin des englischsprachigen Werks Elena Ferrante as World Literature (2021) internationale Bekanntheit.
Werk – Stiliana Milkovas Kurzgeschichten bieten auf kaum mehr als hundert Seiten eine unvergleichliche Vielfalt. Wir lernen diverse Charaktere kennen, die unterschiedlicher kaum sein könnten und die doch einen gemeinsamen Nenner haben: die Suche nach ihrem Platz in der modernen Welt. Es handelt sich um ein Werk für Neugierige und Aufgeschlossene, das für jeden einen Funken Inspiration bereithält.    

Leseprobe – Erstellt und übersetzt von Clara Mathilda von Lingen im Mentorat mit der Übersetzerin Dr. Ulrike Schimming

Deutsche Übersetzung


27. Januar

Auf einmal bekam ich Lust, eine Geschichte zu schreiben. Sie handelt von einer Übersetzerin, die vielleicht nicht professionell als Übersetzerin arbeitet, sondern als etwas anderes – keine Ahnung, als Architektin oder Dozentin oder Verwalterin. Sie ist schlau und schön, doch das ist ihr nicht bewusst, sie arbeitet hart, abends geht sie fast nie aus, weil sie müde ist oder irgendein Projekt fertigstellen oder irgendeine wichtige Frist einhalten muss. Sie wird zufällig Übersetzerin, weil sie perfekt Italienisch kann (doch wie sie es gelernt hat, ist eine andere Sache). Und so liest sie eines Tages eine Geschichte auf Italienisch, die sie umhaut, getroffen von der emotionalen Kraft des Textes, trotz der Einfachheit des Vokabulars und der Klarheit der Erzählung. Kurz gesagt, sie verliebt sich in die Geschichte und sie verliebt sich erneut in die italienische Sprache. Ja, ich weiß, dass es eine farblose Metapher ist, Italienisch als eine Person darzustellen, in die man sich verliebt. Dennoch verliebt sich meine Protagonistin in diese Erzählung und möchte sie ins Englische übersetzen. Sie tut es und verspürt eine unerwartete Lust, eine intellektuelle und physische Freude. Übersetzen erscheint ihr wie ein intimes Verhältnis, sie öffnet sich dem Text und lässt sich von ihm erobern. Als sie fertig ist, erscheint es ihr wie das Ende einer Beziehung. Sie informiert sich und findet heraus, dass sie für die Veröffentlichung einer Übersetzung die Erlaubnis des Verlags oder des Autors selbst braucht, einem zeitgenössischen Schriftsteller aus dem Norden. Doch sie weiß nicht, wie ihr das gelingen soll und wendet sich an ihren ehemaligen Italienischlehrer, einen Dichter – ausgerechnet er hat ihr geraten, diese Erzählung zu lesen. Und hier wird meine Geschichte ein bisschen fantasievoll. Der Dichter, der in einem Land im Fernen Osten lebt, antwortet ihr sofort und sagt, dass der Autor der Geschichte (ich nenne ihn D.) soeben in diesem fernen Land eingetroffen ist, um ihn zu besuchen. Die Übersetzerin – die noch nicht als Übersetzerin arbeitet – bittet ihren ehemaligen Lehrer, den Kontakt mit D. herzustellen. Doch der Dichter erzählt ihr, dass D. in diesem Moment neben ihm sitzt, sie sind gemeinsam zum Abendessen in einem Restaurant, es ist also leicht, ihn zu erreichen – sie muss nur das Wort an ihn richten. Sie staunt über den Zufall und bittet um die Erlaubnis für die Übersetzung. Der Autor ist begeistert, er willigt ein, bittet sie jedoch um einen Brief, in dem sie erklärt, warum ihr die Geschichte gefällt. Und so beginnen die Übersetzerin und der Autor, sich durch Briefe und Nachrichten auszutauschen. Die Erzählung wird in einer amerikanischen Zeitschrift veröffentlicht. Es folgen weitere Übersetzungen, weitere Veröffentlichungen, zwischen den beiden entsteht ein kollegiales Verhältnis, eine zärtliche Freundschaft. Und hier wird meine Geschichte noch fantasievoller. Eines Tages bemerkt die Übersetzerin, dass sie selbst Teil der Handlung der ersten Geschichte ist, ganz so, als wäre sie die Protagonistin. Und an dieser Stelle würde ich die Handlung der übersetzten Geschichte erzählen, denn sie spiegelt bis ins kleinste Detail die Realität wider. So würde meine Erzählung zu einer Geschichte innerhalb einer Geschichte werden, zwei verschachtelte, sich umarmende, verliebte Texte. Um genau zu sein, wäre meine Erzählung die Geschichte der Übersetzerin, gefangen in ihrer Übersetzung, eingeschlossen im literarischen Text, der zur Realität wird, ausgerechnet, weil sie ihn übersetzt hat. Es ist wohl unnötig, dir zu sagen, dass die Geschichte von D. von einer Übersetzerin handelt.


Steckbrief und Übersetzung von Clara Mathilda von Lingen im Mentorat mit der Übersetzerin Dr. Ulrike Schimming

Beiträge zur italienischen Literatur

Beiträge zu anderen romanischen Sprachen

Das Projekt


Bildquelle:

Stiliana Milkova – https://www.oberlin.edu/news/reading-translation-blog-shines-light-literary-translations

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