Werk Es ist 1938. Leonard Washington, ein armer, schwarzer junger Mann in seinen Zwanzigern, lebt am Ufer eines kleinen, halbmondförmigen Sees in den Weiten des Mississippi. Samstagabends erweckt er die bescheidene Bühne in Ma‘ Ridleys Juke Joint mit seinem Blues zum Leben. Er spielt auf Instrumenten, die sein Cousin Elliott in seiner Autowerkstatt selbst zusammengebaut hat. Sonntagmorgens singt er Gospelmusik in der Kirche seines Vaters.
Leonard sehnt sich nach einem besseren Leben. Er freut sich darauf, mit seinem Cousin nach Memphis zu fahren, um bei einer großen Plattenfirma vorzuspielen. Doch ausgerechnet am Abreisetag taucht Elliott nicht auf. Am Ufer des Moon Lake werden zwei leblose Körper gefunden. Wird Leonard seine Träume aufgeben müssen?
Moon Lake ist ein spannender Roman, ein soziales Drama und ein musikalisches Epos, das die grundlegenden Themen des Blues erkundet, um die Geister zu wecken, die noch immer in den USA spuken
– eine fieberhafte Komposition, die von der Liebe und dem Tod singt.

VITA – Thomas Lécuyer ist Mitbegründer des Blues Rules Crissier Festivals in Lausanne, Frankreich. Zudem ist er als Programmgestalter und Kulturjournalist tätig sowie Spezialist für Storytelling und öffentliche Reden. Nachdem er seine Schulzeit an der Ecole des Pupilles de l’Air, einem bekannten französischen Militärinternat absolvierte, wurde er DJ und leitete im Alter von 20 Jahren seine erste Bar in Lyon, das Soul Café. Eine Begegnung mit Jean-Marie Boursicot, dem Gründer der „Nuit des Publivores“, führte ihn ab 1997 nach Paris, wo er 14 Jahre lang als leitender Produzent arbeitete.
Seine Leidenschaft gilt der afroamerikanischen Musik insbesondere dem Soul und dem Blues. Seit 2006 lebt er in der Schweiz, wo er als Kulturschaffender für verschiedene Orte und Festivals tätig ist. Außerdem ist er als Filmkritiker bekannt. „Moon Lake“ ist sein zweiter Roman.
WerkIn einem Schreibstil der eine Hommage an Tennessee Williams, Francis Scott Fitzgerald und William Faulkner darstellt, taucht Thomas Lécuyer seine Figuren in eine Handlung ein, die einer der tragischen Geschichten ähnelt, die die Klassiker des Blues erzählen. Auf den ersten Blick mag diese Kulisse vertraut erscheinen, doch Thomas Lécuyer hat sich nicht den einfachen Klischees hingegeben, sondern gibt die Geschichte des Blues in erschreckender Realität wieder. Der Blues besingt insbesondere die Gewalt gegen Frauen, die Schäden des Alkoholkonsums, die Armut und den Rassismus. Lécuyer erzählt eine fesselnde Geschichte im rauen Unterton der wahren Begebenheiten im Mississippi der 30er Jahre. Die Einzigartigkeit des Schreibstils und der musikalische Hintergrund Lécuyers verleihen dem Werk einen besonderen Klang.

Leseprobe – Erstellt und übersetzt von Tahibita Rehel im Mentorat mit der Übersetzerin Claudia Hamm

Deutsche Übersetzung


Die Morgensonne durchflutete die Autowerkstatt durch ein rissiges Bullauge, es roch vertraut nach einer seltsamen Mischung aus Frittier- und Altöl. Leonard wippte nervös mit dem Fuß auf den staubigen Boden, der seine neuen Schuhe beschmutzte. Elliot war schon mehr als eine Stunde zu spät, und das sah ihm nicht ähnlich. Dabei wusste er doch, wie wichtig dieser Tag war, denn er sollte Leonard vor Mittag nach Memphis fahren. Sie waren für acht Uhr verabredet, und es hatte gerade Viertel nach geschlagen. Wie jedes Mal schienen die Dinge nicht rund für ihn zu laufen. Schon immer hatte er den Eindruck gehabt, dass der Zufall seinem Schicksal nicht in die Hände spielte. Er war als Pfarrerssohn auf dem Land geboren, Schwarz und mittellos, was in völligem Widerspruch zu den meisten seiner Pläne stand. Sein einziger Trumpf in der Tasche schien sein fünf Jahre älterer Cousin Elliot zu sein, der die Autowerkstatt seines Vaters in Lula, Mississippi, nicht weit vom Ufer des Moon Lake entfernt, übernommen hatte. Als passionierter Bastler und Musikliebhaber hatte er Leonard seine erste Cigar-Box-geschenkt, als dieser acht Jahre alt war. Zwölf Jahre später war der Junge erwachsen und besaß eine beeindruckende Sammlung von elektrischen und akustischen Saiteninstrumenten, darunter eine Akustikgitarre, auf die er jahrelang gespart hatte. Alle anderen waren aus Gerümpel wie Motorölkanistern, leeren Zigarrenkisten, alten Felgen, Kühlergrills und Kühlern, Angel- und Nylonschnüren, Tierdärmen oder Klaviersaiten zusammengebastelt. Je nach verwendetem Material hatte jedes der zwölf Instrumente seinen ganz eigenen Klang und Charakter. Manche klangen dreckig und heiser, andere luden zum Reisen und Verweilen ein, wieder andere schienen ihren bitteren, blechernen Schmerz zu heulen, wie Elliots Vater, der seit acht Jahren im Gefängnis verrottete, weil er seine Frau unter Alkoholeinfluss mit einem Schraubenschlüssel erschlagen hatte, nachdem er von ihrer Untreue erfahren hatte.

Leonard hatte sich schon früh für Musik interessiert. Sein Vater war der Pastor der kleinen, Schwarzen Baptistengemeinde in Lula gewesen. An den Gottesdiensttagen spielte Leonard Kirchenlieder und Gospels auf dem alten, hustenden Akkordeon in der kleinen Holzkirche seines Vaters. Samstags half er seinem Cousin in der Werkstatt und schlich sich abends mit ihm zum Moon Lake, dem Juke Joint an der Ecke, um seine Lippen in Moonshine zu tränken, den geschmuggelten Alkohol, der seinen Onkel vor ein paar Jahren um den Verstand gebracht hatte. Auf seinen selbstgebauten Instrumenten spielte er teuflische Bluesriffs bis in die Nacht hinein, während die schönsten Hintern der Gegend ihn mit ihrem geschmeidigen Wippen hypnotisierten. So lernte er dort unter anderem die Grundlagen des Delta-Blues, die Qualen eines morgendlichen Katers und die weibliche Anatomie kennen. Der beengte Ort war wie seine Instrumente aus verschiedenen Materialien: Bretter, Ziegelsteine, Fischernetze, Eisenbahnschwellen, Steine und Wellblech bildeten ein seltsames Haus zwischen Fischerhütte und Hühnerstall, das jeden Donnerstag-, Freitag- und Samstagabend von afroamerikanischen Bauern und Arbeitern aus der Gegend besucht wurde, die auf der Suche nach etwas Vergnügen und Abwechslung vor der Last der Segregation und Ausbeutung flüchteten. Der schlecht beleuchtete Ort war immer brechend voll, vibrierte wie ein hyperaktiver Bienenstock und roch nach gepanschtem Alkohol, frittiertem Essen, Sex und Schweiß. Hier wurde nonstop Musik gespielt: Boogie auf einem alten, zahnlosen Klavier, Delta-Blues auf improvisierten Gitarren und Bluegrass auf geschmuggelten Geigen. Es heißt, der berühmte Charley Patton habe sich hier einmal so zulaufen lassen, dass er vor Ort über 36 Stunden lang durchschlief, ohne dass ihn jemand zu wecken vermochte. Als er wieder zu sich kam, bestellte er einen Drink und schrieb einen Blues, den „Circle Round The Moon“, dann machte er sich wieder auf den Weg. Im Moon Lake Juke Joint floss der im Hinterzimmer gebrannte Moonshine in Strömen, dazu wurde, als Grundlage für die hungrigen Bäuche, rund um die Uhr gebratenes Huhn mit schwarzem Bohnenpüree serviert. Leonard aß immer einen großen Teller voll, sein Cousin Elliot verprasste währenddessen die wöchentlichen Einnahmen aus der Werkstatt beim Glücksspiel, in der oft vergeblichen Hoffnung, sie zu verdoppeln. Dann nahm er eine seiner zwölf Cigar-Boxes, die er sorgfältig seiner Laune entsprechend auswählte, und spielte mit dem ganzen Fieber seiner Jugend ein paar Standards. Er schloss die Augen, spielte die Saiten seines Instruments manchmal bis aufs Blut und sang mit einer Stimme, die viel älter war als er selbst.

Die alte Standuhr in der Garage schlug zehn Uhr und riss Leonard aus seinen Gedanken. Elliot war noch immer nicht aufgetaucht. Vor 12 würden sie wohl kaum in Memphis.


Steckbrief und Übersetzung von Tahibita Rehel im Mentorat mit der Übersetzerin Claudia Hamm

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Das Projekt


Bildquelle:

Thomas Lécuyer – https://www.plaisirdelire.ch/lecuyer-thomas

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