Matteo Trevisani


Werk – Der Protagonist, Matteo Trevisani selbst, erzählt, wie er eines Tages eine E-Mail erhält, der ein Stammbaum seiner Familie angehängt ist. Schnell wird ihm bewusst, dass dieser Stammbaum einige Besonderheiten aufweist. Zunächst sind da die Äste mit den Namen seiner Ahnen, einer nach dem anderen fand einen plötzlichen Tod auf See. Doch dann findet der Protagonist zwischen all den Geheimnissen, die sein Stammbaum birgt, auch noch das Datum seines eigenen Todes. Am 21. September, nicht einmal eine Woche später, endet der Ast, an dem sein Name steht. Also begibt er sich auf die Suche und taucht tief in seine Familiengeschichte ein.In diesem bewegenden Roman verbindet Matteo Trevisani sein Interesse für genealogische Untersuchungen und seinen mitreißenden Schreibstil. Er vermischt Gegenwart und Vergangenheit, Offenkundiges und Mysteriöses, Neugierde und Angst. Die geheimnisvolle Geschichte reißt uns Lesende mit und regt zum Denken an. Der Protagonist scheint ein Mann wie jeder andere, geprägt von Ängsten und Unsicherheiten. Ein Vater, der seinen Sohn und seine Frau beschützen will. Es fällt nicht schwer, sich mit Matteo zu identifizieren. Umso mitreißender ist es, sich gemeinsam mit ihm auf die Spurensuche in der Vergangenheit zu begeben. 

VITA – Matteo Trevisani ist 1986 in San Benedetto del Tronto geboren und lebt heute in Rom. Er schreibt regelmäßig für La Letteratura – Corriere della seraund diverse Zeitschriften, ist Herausgeber der EdizioniTlon und Redakteur der Literaturzeitschrift NuoviArgomenti. Neben seinem Roman Libro del sangue (2021) veröffentlichte Trevisani Libro dei fulmini (2017) und Libro del sole (2019). Der Autor gibt an der Scuola Holden Kurse in Ahnenforschung und Schreiben.

Werk – Matteo Trevisani schafft es mit seinem unvergleichlichen Stil, Spannung und Familiengeschichte in einem originellen Roman zusammenzubringen. Mit seinem mysteriösen Stammbaum gelingt es ihm, verschiedenste Zielgruppen bei seiner Suche in der Vergangenheit mit ins Boot zu holen.    

Leseprobe – Erstellt und übersetzt von Clara Mathilda von Lingen im Mentorat mit der Übersetzerin Dr. Ulrike Schimming

Deutsche Übersetzung


Prolog

Der Fluch

In jeder Generation unserer Familie mussten alle Erstgeborenen einer Blutlinie ertrinken. Es gab kaum eine andere Todesursache. Es gab zu Beginn weder einen Grund dafür noch eine Möglichkeit zu entkommen. Nur die Ertrunkenen und die Ereignisse, die sich über die Jahre wiederholten, die zu einem Muster und schließlich unausweichlich wurden. Um ehrlich zu sein, als ich davon erfuhr, als sie mir von dem Fluch erzählten, voller Überheblichkeit gegenüber all den altbekannten und unbestreitbaren Familienangelegenheiten – ein Charakterzug, ein diagnostizierter Fall von Schizophrenie, die Kahlköpfigkeit, die Hartherzigkeit, die Neigung zu Buße und Verschweigen – gab es die Toten nicht einmal mehr. Sie waren vergessen worden. Alles, was blieb, waren die Grundzüge der Geschichte: Niemand wusste, wer diese Toten wirklich waren und die zurückgelassenen Familien. Wir wussten nur, dass wir von den Schiffbrüchigen abstammten und dass wir zu den Schiffbrüchigen zurückkehren würden. Nicht, dass wir das wirklich glaubten, doch es war eine Möglichkeit, sich an eine Vergangenheit zu binden, ohne sich damit auseinandersetzen zu müssen.

Die Geschichte habe ich entdeckt, als ich klein war. Ich war ungefähr zehn Jahre alt, als ich den Namen meines Vaters auf einer Marmortafel im Hafen las, die an einige Schiffbrüchige erinnerte. Vielleicht hatte mir eine meiner Tanten davon erzählt oder einer meiner älteren Cousins. Die Namen zu kennen, die sich zu meiner Familie zusammensetzen ließen, war also mit einer Tragödie verbunden. Mein Vater war das jüngste von neun Kindern, spät geboren, mit einer bereits alten Mutter und einem Vater, der sein ganzes Leben auf See verbracht hatte und der versuchte, sich zur Ruhe zu setzen, ohne dass es ihm je wirklich gelang. Nazzareno, mein Großvater, war Handelsseemann in Ancona, Maschinist, ausgezeichnet für viele Jahre in der Seefahrt. Eine Sippe, die – buchstäblich – auf dem Wasser großgeworden ist. Das erste dieser neun Kinder war Giuseppe. Er war der einzige Tote in vielen Jahren. Dieser schiffbrüchige Onkel, den ich Jahre später blitzartig zu begraben versuchte, schürte in mir Angst und Faszination zugleich. Mit achtzehn Jahren gestorben, unbekannt. Mein Vater, das letzte Kind dieser Familie, bekam den gleichen Namen wie Giuseppe, um an einen viel zu früh verstorbenen Sohn und Bruder zu erinnern und um ihn zu ersetzen. Als mein Vater geboren wurde, war Giuseppe schon seit zwei Jahren tot. Auf dem einzigen Foto, das ich von ihm besitze und das dem Vergessen, den Umzügen der Alten und den in Eile geschlossenen Kartons entgangen ist, sitzt er auf den Schultern meines Großvaters auf einem Boot. Sie lächeln, wirken glücklich. Auf keinem anderen Foto habe ich meinen Großvater so lächeln sehen, wie in diesem Moment. Mein Onkel Giuseppe war der letzte, der ertrunken ist, beim Untergang des Kutters, auf dem er gearbeitet hat, der Madonna di San Giovanni, im Herbst 1957. Ich habe ein Foto von der Besatzung, doch er ist nicht darauf zu sehen. Ich stelle mir vor, dass er im letzten Moment gerufen wurde, vielleicht frühmorgens, um irgendeinen der Männer zu ersetzen und dass sein Vater möglicherweise mit der Härte der letzten Dinge zu ihm sagte: Nun hau schon ab. Und ich habe ihn mir sehr jung vorgestellt, wie er nachts pfeifend vom höher gelegenen Dorf zum Hafen hinabstieg, nachdem er der Mutter einen Abschiedskuss gegeben hatte, vielleicht hatte er einen Beutel oder etwas ähnliches für den Fischfang dabei. Er sollte nie wieder heimkehren. Er war ein Junge, wie ich einer war, wie mein Sohn einer sein wird. Auch er hatte Zukunftshoffnungen, Liebschaften, Zweifel. Hatte er vielleicht Angst? Woran dachte er wohl, als er bemerkte, dass es zu spät war? Oder klammerte er sich bis zuletzt an seinen Überlebenswillen? Vielleicht hatte er sich schon einmal vorgestellt, wie es wohl wäre zu sterben, ja, aber nicht jetzt, nicht mitten in der Nacht, nicht so weit weg von zu Hause. An wen dachte er wohl? Meine Großmutter? Vielleicht schrie er Mama, während das Wasser in seine Kehle drang, oder vielleicht Papa, Papa. Giuseppe trug keine Schuld. Keiner derjenigen, die gestorben sind, trug sie. Ich glaube nicht, dass dieser Schmerz unbegründet war: Bestimmt hatten wir etwas Grausames getan, um ihn zu verdienen. Mein Vater, dem mit diesem Namen ein sinnloses Schicksal aufgebürdet wurde, das nicht seins war, war der Einzige, der nicht zur See fuhr, und ich habe mich geweigert, die Geschichte der Namen fortzuführen. Doch ich wollte sie besser verstehen, wollte dem Ganzen auf den Grund gehen. Das war der Same des Stammbaumes: Ich wollte wissen, wo der Fluch seinen Ursprung hat, wie viele daran gestorben sind, wem diese Familie so viel Leid zugefügt hat. Wer sich rächt. Ob wir es verdient haben oder nicht.

Also schrieb ich die Namen auf, schrieb die Daten auf, schrieb die Namen der Friedhöfe auf und markierte die Standorte der Gedenktafeln. Vor allem stellte ich Fragen. Und wie ein Staudamm eines künstlich angelegten Beckens, der nach dem ersten Regen bricht, wurde ich von meinen Entdeckungen fortgerissen.

Viele denken, die Tradition sei die unveränderliche Wiederholung dessen, was gewesen ist, doch das ist nicht ganz richtig. Traditionen wandeln sich, sie passen sich an, sie verändern die Ränder, um ihre Mitte zu bewahren und sie zu beschützen. Das Feuer, das in Rom in der Mitte des Forums brannte, war das gleiche, das die zoroastrischen Priester in Persien hüteten. In meiner Mitte schwamm in den tiefen Wassern, wo die Möglichkeiten der Welt wallten, ein Seeungeheuer.


Steckbrief und Übersetzung von Clara Mathilda von Lingen im Mentorat mit der Übersetzerin Dr. Ulrike Schimming

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Das Projekt


Bildquelle:

Matteo Trevisani – https://www.978-3.com/autor-inn-en/matteo-trevisani

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