Camille Espedite


Werk – Der Roman handelt von Hasna, einer Frau mittleren Alters, die ihren Mann verloren hat und auch ihre Tochter nicht mehr sieht. Auch von ihrer Freundin ist sie weggezogen. Nachdem sie aus dem Gefängnis entlassen wird und auf Bewährung kommt, ist sie zunächst arbeitslos. Um auf dem Arbeitsmarkt Erfolg zu haben, unterzieht sie sich einer Gesichtsoperation, die ihr von ihrem Sachbearbeiter im Jobcenter empfohlen wurde. Dieser operative Eingriff wird zu einem traumatischen Erlebnis für die Witwe, weil sie sowohl sich selbst als auch die Gesichter ihrer Mitmenschen nicht mehr wiedererkennt. Sie beginnt, ihr Gesicht zu verschleiern, um der Auflösung ihrer Identität zu entfliehen, und schließt sich zuhause ein. Der Gesichtsverlust geht mit einem Identitätsverlust einher, der die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben nicht mehr möglich macht. Hasna fällt in eine Depression. Es folgen weitere Operationen, die nicht nur ihr Gesicht betreffen, sondern auch ihren restlichen Körper in Mitleidenschaft ziehen. Sie fällt in einen Teufelskreis, in dem mit jeder weiteren Operation der psychische Leidensdruck ansteigt. Es dauert nicht mehr lange bevor sie von der Polizei gesucht wird. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, in dem sie mit den dunklen Seiten der Gesellschaft konfrontiert wird.

VITA – Camille Espedite, mit bürgerlichem Namen Nicolas Tainturier, ist ein französischer Autor. In einem Pariser Vorort geboren, lebt und arbeitet er derzeit auf Korsika. Neben seiner beruflichen Tätigkeit als Beamter in der Verwaltung, arbeitet er als Romanautor. Seine Romane veröffentlicht er unter dem Pseudonym „Espedite“. Bisher hat er insgesamt fünf Romane publiziert. Der Roman Palabres (2011) war seine erste veröffentlichte Erzählung. Seine Texte sind von satirischer und dystopischer Natur und haben revolutionäres Handeln als Antwort auf gesellschaftliche Entwicklungen zum Thema.
Werk – Der Roman Cosmétique du chaos thematisiert die Wichtigkeit des Gesichts in einer Welt, in der automatische Gesichtserkennung den Zugang zum gesellschaftlichen Leben erlaubt. Die Diktatur des Scheins, die Stellung des Aussehens und die damit verbundenen Exzesse werden in der Erzählung kritisch dargestellt. Der Roman erzählt die Geschichte eines stillen Aufstands, eines gesichtslosen Aufstands gegen eine Gesellschaft, die von Technologie und Massenüberwachung dominiert wird. Insbesondere die poetisch verdichtete Sprache, die Espedite hier verwendet, ist eine Besonderheit des Romans. Sie ist teilweise schwer zu durchdringen, wie das „kosmetische Chaos“, das er zeigen will.

Rezension

Eine Zukunft ohne Gesicht: Technologie und Identität in Cosmétique du chaos

Die soziale Identität des Menschen hat ein Ende. In seinem Roman Cosmétique du chaos inszeniert Espedite die erschreckende Realität der automatischen Gesichtserkennung und ihre Folgen für die gesellschaftliche Stellung des Menschen.

Gesicht und Individualität

In einer Gesellschaft, die von oberflächlichem Perfektionismus und dem Kult des äußeren Erscheinungsbildes geprägt ist, sind Schönheitsoperationen zur gängigen Praxis geworden. Das erschreckende Nacheifern unrealistischer Schönheitsstandards verstärkt den gesellschaftlichen Druck nach Konformität. Mittlerweile stellt physische Attraktivität auch auf dem Arbeitsmarkt ein wichtiges Auswahlkriterium dar. Moderne Technologien der Gesichtserkennung verstärken dabei nicht nur die Rolle des Gesichts als Identitätsträger, sondern lassen die Grenzen zwischen wiedererkennbarer Persönlichkeit und einem manipulierten, selbstentfremdeten Ideal verschwimmen.

Cosmétique du chaos, ein Kurzroman des auf Korsika lebenden AutorsEspedite, mit bürgerlichem Namen Nicolas Tainturier, thematisiert die Bedeutung des Gesichts in einer Welt, in der die automatische Gesichtserkennung den Zugang zum gesellschaftlichen Leben erst ermöglicht. Der Autor kritisiert die Diktatur des Scheins und die daraus resultierenden Konsequenzen auf dem Arbeitsmarkt. Der Roman erzählt von einem stillen Aufstand gegen eine von Technologie und Massenüberwachung geprägten Gesellschaft. Der Mensch wird dabei auf die Sammlung von Daten reduziert wird, die von spezifischen Überwachungstechnologien erfasst werden. die nur einen begrenzten Blick auf die Komplexität des Menschen haben. Das Gesicht, als primäres Erkennungsmerkmal, spielt im Roman dabei eine zentrale Rolle, wenn es um die Identitätskämpfe der Protagonistin Hasna geht.  Mit einer poetisch verdichteten Sprache schafft Espedite eine bedrückende Atmosphäre auf 105 Seiten, die den Leser gleichermaßen fasziniert und herausfordert. Sie ist teilweise schwer zu durchdringen, wie das „kosmetische Chaos“, was er zeigen will.

Die Geschichte wird aus der Perspektive der Protagonistin Hasna erzählt, deren Leben nach dem Tod ihres Ehemanns Charif eine dramatische Wendung nimmt. Hasna ist Witwe, die auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen und mit der Arbeitslosigkeit konfrontiert wird. Um auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich zu sein, unterzieht sie sich einer Reihe von Schönheitsoperationen, die ihr von ihrem Sachbearbeiter bei „Pôle emploi“, also im Arbeitsamt, empfohlen werden. Diese Schönheitsoperationen betreffen nicht nur ihr Gesicht, sondern auch ihren restlichen Körper. Doch die Eingriffe werden zu einem traumatischen Erlebnis, da Hasna nach der OP weder sich selbst noch die Gesichter ihrer Mitmenschen wiedererkennt. Auf der Suche nach ihrer verlorenen, „wegoperierten“ Identität beginnt sie ihr Gesicht zu verbergen und rebelliert so gegen die Allmacht der technologischen Gesichtserkennung.

Espedite gelingt es, die psychische Belastung, der Hasna ausgesetzt ist, einfühlsam zu beschreiben. Die Protagonistin leidet unter Depressionen, schluckt Beruhigungsmittel und versucht, der Realität zu entfliehen. Die Verdichtung der Emotionen in der Sprache des Romans verstärkt die Intensität der Gefühle und lässt den Leser tief in Hasnas Innenwelt eintauchen. Dies gelingt dem Autor vor allem dadurch, dass er Hasnas Geschichte in der zweiten Person Singular, dem Du, erzählt. Dieser Vokativ hat eine klare Appellfunktion, wobei nicht immer klar wird, wer hier auffordert oder aufgefordert wird: spricht hier die Gesellschaft ein normatives, übergriffiges, kollektives Du? Spricht Hasna mit und zu sich selbst? Oder ist der Leser gemeint?

Besonders beeindruckend ist die Figur Hasnas gezeichnet: mit ihren Ängsten und ihrem Kampf um die Wiedererlangung ihrer Identität birgt sie ein starkes Identifikationspotenzial. Ihre Einsamkeit und Trauer nach dem Verlust ihres Mannes und der Trennung von ihrer Tochter werden greifbar. Hasna ist eine vielschichtige Figur, die sich im Laufe der Geschichte gegen die gesellschaftlichen Erwartungen und Normen stellt. Ihre Entscheidung, ihr Gesicht zu verschleiern, wird zu einem Symbol des Widerstands und der Suche nach Individualität in einer Welt, in der Schönheitsoperationen und Technologie die Menschen entmenschlichen. Sie bemalt dabei den Schleier selbst, gibt ihm ein Gesicht und kreiert so eine symbolisch stark aufgeladene Form einer Maske: « Un jour, par agacement ou amusement, tu ne saurais dire, non contente de te maquiller, tu grimes aussi le voile, tu lui dessines une bouche, des yeux, des narines. Tu le places sur ta tête. Le masque est ridicule mais il te fait rire. Tu te sens de nouveau frivole et légère » (S. 52 f.).

Sozialer Druck und Psychostress

In Cosmétique du chaos werden insbesondere die Themen des gesellschaftlichen Drucksund des persönlichen Widerstandsauf bemerkenswerte Weise miteinander in Beziehung gesetzt. Die Protagonistin Hasna findet sich in einer Welt wieder, in der der eigene Körper der Gesellschaft gehört. Sie wird vom Arbeitsamt regelrecht gezwungen, sich Schönheitsoperationen zu unterziehen, um den gesellschaftlichen Normen zu entsprechen und somit auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich zu sein. Hasnas Körper wird  zunächst zu einem Spielball gesellschaftlicher Körpernormen. Vor den Eingriffen muss sie sich enthaaren, sich desinfizieren und sogar fasten. Diese detaillierte Beschreibung der Vorbereitung auf den Eingriff lässt den Leser die Unterdrückung und Entfremdung der Protagonistin Hasna regelrecht nachspüren: « Tu es attendue dès le lendemain pour une première intervention. Tu dois t’épiler le corps intégralement et le désinfecter en te badigeonnant de solution alcoolique. Tu dois également rester à jeun et, si possible, garder ta vessie vide. La nuit sans sommeil, les yeux perdus dans la pénombre, tu flottes dans ton corps aseptisé qui n’est déjà plus le tien mais l’a-t-il jamais été ? Tu marches au plafond, irradiant d’ondes charnelles, tu es une plante grimpante qui se fond dans le creux du monde. » (S. 48 f.) Die schlaflose Nacht vor dem operativen Eingriff an ihrem Körper weist auf ihre Verwirrung und Angst hin. Sie fühlt sich in ihrem Körper fremd und hat das Gefühl als hätte sie ihn nie besessen. Hasna macht im Roman mehrmals deutlich, dass der eigene Körper ein Zuhause sein sollte, aber die Gesellschaft ihr dieses Zuhause entreiße.

Die psychischen Belastung, der die Hauptfigur ausgesetzt ist, manifestiert sich in einem beunruhigenden Bild von Flucht und Selbstmedikation. Die Arbeitslosigkeit und der Drang nach dem Zusammenleben mit ihrer Tochter lassen einen sozialen Druck entstehen, der sich auf ihre Psyche auswirkt. Dabei verliert sie sich selbst und fühlt sich gleichgültig gegenüber ihrer Umwelt. Die Gesellschaft hat sie gebrochen und sie sucht verzweifelt nach einer Möglichkeit, ihren Geist wieder zu beruhigen: « Tu retournes chez toi à la hâte, fouilles la boîte à pharmacie, trouves les calmants que ton médecin t’a prescrits après la perte de ton emploi à l’agence bancaire du centre-ville et avales trois comprimés indistincts. Ils diluent ton corps en même temps que ta conscience : tu t’entends respirer, mais tu ne sens pratiquement plus tes jambes. Debout dans le couloir, tu te laisses tanguer entre les traces du chat qui miaule quelque part. Son fantôme plane dans le salon, ses poils éparpillés en une meute de bestioles translucides. Cette omniprésence te rend bizarrement l’espace plus familier que de coutume. Tu as la sensation d’y flotter toi-même, comme une ombre. » (S. 15 f.)Die Tabletten werden zur Flucht vor der Realität, ermöglichen ein zeitweises Stumpfwerden. Die Metapher des Körpers, der sich geisterhaft auflöst, und des Bewusstseins, das abgeschwächt wird, verdeutlichen den Wunsch sich der Gesellschaft körperlich entziehen zu wollen. Sie hört zwar noch ihr eigenes Atmen, aber ihre Beine scheinen kaum noch spürbar zu sein. In dieser Zustandsbeschreibung manifestiert sich die psychische Belastung, unter der sie leidet, auf drastische Weise.

Der verschleierte Widerstand

Eines Tages entscheidet sich die Protagonistin Hasna einen Schleier zu tragen. Sie möchte sich nicht nur selbst schminken, sondern auch diesen Schleier. Sie verziert ihn mit einem Mund, Augen und Nasenlöchern. Obwohl die Maske lächerlich erscheint, bringt sie Hasna zum Lachen und sie fühlt sich leicht. Dieser Akt der Selbstinszenierung wird schließlich zu einem Ausdruck des Widerstands gegen die gesellschaftlichen Normen und Erwartungen: « Tu souffles su le tissu pour le faire vibrer. Tu joues avec la lumière, à la fois présente et absente. Tu te rends compte que le voile te procure quelque chose que tu crois n’avoir jamais réellement éprouvé : une intimité. Ce simple tissu devant tes yeux t’incite à la retenue, non pas à solitude aveugle, plutôt au recueillement. Tu souris à l’idée que tu es en train de penser comme une religieuse, toi qui as toujours considéré avec dédain les superstitions ridicules su l’au-delà. Mais le fait est que tu te sens bien, enfin chez toi derrière ce voile, à l’abri des menaces extérieures, jalousie éclaboussée du soleil de Méditerranée, protégée de ses rayons et du regard des passants. Tu apprécies ta nouvelle pudeur. » (S. 52 f.) Dank des Schleiers erlangt Hasna paradoxerweise ihre verloren geglaubte Intimität zurück. Identität reimt sich hier mit Intimität, Verdeckung mit Wiederentdeckung. Sie fühlt sich hinter dem Schleier wohl und wie zuhause. Sie ist geschützt vor äußeren Bedrohungen und schätzt ihre zurückgewonnene Identität. Der Schleier wird zu einer Form der Erlösung. Er gibt ihr die Möglichkeit, sich vor den gesellschaftlichen Erwartungen zu verstecken, und so zu befreien.

Der Kurzroman Cosmétique du chaos von Espedite erzählt von einer Gesellschaft, die ihr Gesicht, oder ihre Gesichter verliert. Als Leser wird man in die poetisch-tragische Welt der Hauptfigur Hasna hineingezogen und gewinnt Bewusstsein über die zentrale Rolle des Gesicht für die Identitätsbildung. Cosmétique du chaos ist eine tiefgründige und bewegende Geschichte, die sowohl die Höhen und Tiefen als auch die Vielschichtigkeit der menschlichen Identität darstellt. Er fordert den Leser dazu auf, das eigene Körper-Verhältnis zur gesellschaftlichen Norm zu reflektieren. Die poetische Erzählweise des Autors und die spannende Entwicklung der Hauptfigur Hasna machen den Roman zu einer fesselnden Lektüre. Durch die fortschreitende Technologie und die Stellung des Aussehens in der heutigen Gesellschaft unterrichtet dieser Kurzroman über die wahren Werte des Lebens. Der Text lässt sich auch als Fiktion des Posthumanen lesen, denn es sind Technologien, die das „Menschlichsein“ erkennen, messen und vorgeben.


Steckbrief und Rezension von Yegane Allawardi im Rahmen des B.A. Seminars von Dr. Sofina Dembruk

Beiträge zur französischen Literatur

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Das Projekt


Bildquelle:

Camille Espedite – http://www.lepassage-editions.fr/produit/se-trahir/

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