Werk – Im Jahre 2060 ist es dem Unternehmen G∙Nome gelungen dank hochmodernisierter Gentechnologie den Menschen zu optimieren. Diese „augmentation“ erfolgt in Form von Pillen, die der charismatische Chef des Unternehmens, Sven Stiegsson, unter dem Namen „Life++“ vermarktet. Diese Art optimierter Menschen werden als „quadricodés“ oder „quadriportés“ bezeichnet. Die brillante Bioinformatikstudentin Shu Jing möchte dem Unternehmen beitreten. 20 Jahre zuvor muss der Wissenschaftler Mounir Awwad eine fatale Entscheidung im Krieg gegen Israel treffen. Als sich Jings und sein Weg später kreuzen, steht er erneut vor einer Entscheidung, die das Auslöschen unschuldiger Menschenleben bedeuten könnte. Gageac dekliniert mit dem Roman Life++: La Vie augmentée mögliche weitgreifende Konsequenzen, die aus der Genmanipulation des Menschen hervorgehen könnten. Dabei werden wiederholt ethische Fragen hinsichtlich des Monopols von Biotechnologien und Kapital aufgeworfen. VITA – Über Rémi Gageac sind nur wenige persönliche Informationen bekannt. Ein persönlicher Blog (http://www.remigageac.com/blog/), der seit 2017 nicht mehr aktualisiert wird, ebenso wie ein Twitter und ein Facebook Account des Autors geben nur begrenzt Biographisches preis. Ob es sich bei dieser bedeckten Internetpräsenz um ein gewolltes Statement zu Big Data und Überwachungstechnologien handelt, bleibt Mutmaßung. Zumindest würde es die Themenschwerpunkte erklären, die Gageac in seinen zwei bislang erschienenen Romanen (Le Marché, (2013) und Life++: La Vie augmentée, (2015) behandelt. | Werk – Der Roman Life++: La Vie augmentée von Rémi Gageac thematisiert den Trans-humanismus in seiner größtmöglichen Bandbreite: über biotechnologische Ent-wicklungen und Gen-manipulation bis hin zum Entwurf eines ‚neuen Menschen‘, geht es auch um einen Biowaffenkrieg, Rassismus und die Frage nach Spiritualität in einer hoch-technologisierten Welt. Mittels der eigentümlichen Vermischung von hochspezialisiertem Wissenschaftsvokabular mit fantastischen Erzählelementen, experimentiert der Autor mit möglichen Folgen der Gentechnologie. Dabei liest sich dieser transhumanistische Gesellschaftsentwurf teils wie ein Laborbericht. |
Rezension
Seltsam GEN-ial: fantastische Biologie in Rémi Gageacs Life++
Life++: La Vie augmentée von Rémi Gageac entwirft eine nahe Zukunft, in der Gentechnologien und Biowaffen die Menschheit verändern. Aber reichen die Erfolge der Genindustrie aus, um den Technikenthusiasmus der genialen Protagonistin Shu Jing zu stillen oder stolpert sie geradewegs in die entgegengesetzte Richtung, wo das Netz des Widerstandes gegen Life++, ein Genoptimierungsprogramm des Pharmariesen G∙Nome, gesponnen wird? Die Abschnitte in dieser Rezension werden mit „Positionen“ angegeben, da der Roman nur als Kindle erhältlich war und gelesen wurde.
Gene und Kapitalismus
Mutter Erde, 2060. Das multinationale Unternehmen G∙Nome erobert die Welt im Sturm mit dem sogenannten Life++: Es handelt sich um ein System, was nicht nur zu körperlichen Verbesserungen, sondern auch zu mentalen Höchstleistungen verhelfen kann. Die Menschen streben nach Selbstoptimierung und das stetige Hasten nach einer weiteren Möglichkeit, seine kognitiven Fähigkeiten zu erweitern, ist eines der Ziele in der Gesellschaft, die Gageac entwirft. Der charismatische Sven Stiegsson wird zum Motor dieser Gen-Revolution, die eine „augmentation“ des „alten Menschen“, zum Ziel hat. Dieses „enhancement“ wird in Form einer Pille veranlasst. Dabei stößt die Gen-Revolution auf Widerstand als die hongkongische Studentin Shu Jong sich der Widerstandsgruppe der Moaї anschließt und sie sich als Ziel setzt G∙Nome zu stoppen.
Der Technik-Thriller von Roman Gageac erzählt eine Zukunft, wie sie mit moderner Wissenschaft bald realisiert werden könnte. Dafür skizziert der Autor in langen Passagen die biologischen Abläufe, die innerhalb des Körpers geschehen, wenn es zur Genmanipulation kommt. Diese lesen sich teilweise wie ein Laborbericht und werden immer wieder mit Fragen nach Wissenschaftsethik verschränkt, vor allem wenn es um den Einsatz von Biowaffen und die gravierenden Folgen des Wissenschaftsmissbrauchs geht. Mit dem Thema der Biowaffen greift Gageac gewissermaßen der Corona-Pandemie vor. 3 Jahre lang hat der Corona-Virus auf der Welt gewütet und sei Theorien zufolge ebenfalls eine mögliche Biowaffe, die aus einem Labor ausgebrochen sei. In dem Roman wird zum Beispiel eine Biowaffe genutzt, um im Krieg zwischen zwei Ländern, die Oberhand über Wasserressourcen zu gewinnen. Dafür wurden Biowaffen entwickelt, die in Form eines Virus zur Eliminierung von Menschen mit dem „Juden-Gen“ diente.
Entwurzelte Lebenswege
Wir schreiben das Jahr 2060: die Hongkongerin Shu Jing entscheidet sich gegen ihren eigentlichen Traumarbeitgeber G∙Nome zu rebellieren und hinterfragt das gesamte System Life++, dabei wird ihr unwissentlich von G∙Nome die neueste Version von Life++ injiziert und sie damit zum ersten Testobjekt. Shu Jing ist von nun an eine sogenannte „quadricodée“: in ihrem genetischen Code werden vier stickstoffhaltige Basen anstatt drei verwendet. Außerdem werden während der Injektion von Life++ kleine Roboter in ihren Zellen installiert. Ziel ist die Optimierung geistiger und körperlicher Fähigkeiten des „alten Menschen“. Im Anschluss verkauft G∙Nome die gewonnen Bio-Informationen an die Hongkonger Regierung. Jing bleibt in dem Unwissen ihrer Infizierung bis zum Ende des Romans. Der Chef des Unternehmens G∙Nome, Sven Stiegsson, offenbart ihr, dass er mit der Life++ Ver5 neues Leben schaffen will und damit den Mond besiedeln möchte.
Rückblende ins Jahr 2047: der Wissenschaftler Mounir Awwid wird gezwungen einen Virus zu entwickeln, um diesen im Konflikt gegen Jordanien einzusetzen. Es soll um die Ausrottung des sogenannten „Juden-Gens“ gehen. Menschen, die ein solches Gen in sich tragen, sollen durch diesen Virus gezielt umkommen. Das Einsetzen von Biowaffen wird von der Regierung legitimiert, da der Konflikt zwischen Jordanien und Israel um Wasserzugänge ihren Höhepunkt erreicht. Obwohl Awwid sich erhoffte mit seiner Forschung, mittels genmanipulierter, feuchtigkeitsspeichernder Pflanzen, das Problem der Wasserarmut zu lösen, wird sein Optimismus schnell zerstört, durch die andauernden Anschläge der Oppositionsseite, die die Gesellschaft zermürbt. Die gravierenden Folgen des Virus werden sowohl dem Leser als auch Awwid vor Augen geführt, als seine Geliebte in seinen Armen stirbt, da sie besagtes Gen durch ihre Mutter in sich trägt.
Das Ende des Romans fällt mit dem Untergang von G∙Nome zusammen, dass durch Jings Veröffentlichung des Codes, der das Monopol des Unternehmens sicherte, ausgelöst wird. Damit ist die Realisierung von Life++ für andere Unternehmen möglich und die Korruption von G∙Nome und der hongkongischen Regierung wird offenbart. Die enthüllte Korruption löst Proteste in der Gesellschaft aus.
Transhumanistische Ethik
In Zeiten der Marsbesiedelung und dem transhumanistischen Postulat, dass die Optimierung des Menschen durch Verschmelzung mit Technologie ganz bald geschehen wird, ist Gageacs Roman brandaktueller denn je. Durch die sich rasant entwickelnde Technologie muss sich die Menschheit ebenfalls die Frage stellen, inwieweit es ethisch vertretbar ist, in das „System Mensch“ einzugreifen und genetische Veränderungen an Menschen ohne ihren Konsens durchzuführen. Mit der Thematisierung von Gentechnik lässt sich Gageacs Roman in die Reihe bekannter literarischer und filmischer Beispiele einordnen. Über die Folgen von Gentechnik für die Menschheit sind die Dystopie Brave New World (1932) von Aldous Huxley aber auch der Roman La Possibilité d’une île von Michel Houellebecq aus dem Jahre 2005 zu nennen. Im Film hat bereits 2009 James Camerons Film Avatar eine mögliche Zukunft vorgestellt, wo es zur Ausweitung der Menschheit auf anderen Planeten mittels Gentechnologie kommt. Gageacs Technik-Thriller ist ein Paradebeispiel für einen Roman, der Wissenschaft und Fiktion verbindet, der von facettenreichen Protagonisten getragen wird und der mit einem fundierten Wissen biologischer Prozesse glänzt. Die im Roman beschriebenen biologischen Abläufe machen diesen Text zu hervorragendem Lehrmaterial für Biologie im Fremdsprachenunterricht. Dazu kommt der ethische Aspekt, der beispielsweise hinterfragt, ob es vertretbar ist, eine Biowaffe zu nutzen, um einen jahrelangen Krieg zu beenden.
Wissenschaft vs. Natur
Der Schreibstil in den parallel verlaufenen Handlungssträngen macht Gageacs Liebe fürs biologische Detail deutlich. Auch wenn der Roman zu Beginn zwei verschiedenen Figuren folgt, lässt Gageac nie eine Chance aus zum Beispiel das Themenfeld der Natur im Handlungsstrang um Awwids Forschung detailreich wiederzugeben, was es dem Leser einfacher macht, sich die Umgebung vorzustellen. Ebenso Jings Umgebung wird immer wieder mit genauen Beschreibungen visualisiert. Hinzu kommen die haargenau beschriebenen biologischen Abläufe, die zum Teil kapitelweise an Länge gewinnen: « J’aimerais désormais attirer votre attention sur un fait crucial, qui est le point de départ de la bio-informatique. Le code génétique, que beaucoup considèrent comme intangible, puisqu’il nous vient du fond des âges, n’est qu’une convention. La vue de la cellule et de ses molécules gigotantes s’estompa soudain, cédant la place à une sorte de Rubik’s Cube dont les arêtes comportaient quatre petits dés. Puis le cube s’effeuilla en quatre tranches, dont chacune vint se loger dans un coin de l’amphi. Jing comprit que le cube matérialisait le code génétique. Chaque dé représentait un type de codon, ses coordonnées étant déterminées par les bases azotées que le composaient. » (Position: 318)
Die biologischen Abläufe, die genutzt werden, um die „augmentation“ zu erklären, stehen im Konflikt mit der Religion, wie etwa im Handlungsstrang um Awwid. Es muss zum Überschreiten der Grenzen momentaner Denkweisen kommen, da die neuartigen Wissenschaften nicht mehr ohne Weiteres erklärbar sein werden. Besonders die moralisch-ethischen Standpunkte müssen neu überdacht werden, im Roman sowie auch in unserer Wirklichkeit.
Fokus: der Mensch als Testobjekt
Im Roman lassen sich viele gesellschaftliche Phänomene wiederfinden, wie sie auch in unserer Welt vorhanden sind. Eine kapitalistische Gesellschaft funktioniert nicht, ohne dass ein Teil der Gesellschaft Nachteile gegenüber anderen erleidet. Dies wird im Roman einerseits klar als Jing die Gemeinschaft in der Mülldeponie der Fabrik entdeckt, die verzweifelt versucht, mit Wertstoffverkauf ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Andererseits wird Jing direkt damit konfrontiert, als ihre beste Freundin Xiao-Fang sich das Privileg erkauft, zu einer „quadricodé“ zu werden und damit die „augmentation“ am eigenen Leib erfährt. Diese Segregation zwischen „quadricodé“ und nicht-genmanipulierten Menschen wird verdeutlicht, als der Anführer des Widerstandes Pierre Jing ablehnt. Pierre und Jing werden während ihrer Zeit in der Widerstandsgruppe ein Liebespaar und Jing wird von Pierre schwanger. Da Jing bereits unwissentlich Life++ Ver5 in sich trägt, würde das Baby die Genveränderung ebenso in sich tragen. Pierre verstößt Jing aus diesem Grund.
Fantastische Tierwesen
Gageac basiert den Roman größtenteils auf Wissenschaft, kombiniert diese aber mit fantastischen Elementen, was am Ende des Romans deutlich wird. Aus den Möglichkeiten an Ideen, die man mit der Wissenschaft in der Zukunft verwirklichen könnte, entscheidet sich der Autor, ein surreales Element einzubauen. Wir erfahren, dass Sven Stiegsson die Genmanipulation durch Life++ nutzt, um Tiere zu entwickeln. Jedoch entsprechen diese nicht unserem klassischen Bild der Lebewesen. So lernt Jing ein Beuteltier kennen, das die physischen Kennzeichen eines Pelikans aufweist, jedoch trägt es ein blaues Federkleid und kann fliegen. Das Tier spielt eine relevante Rolle im Roman, da es später als Reisemittel für Jing dient, indem sie in den Beutel des Tieres steigt, um so Stiegsson zu entfliehen:
« -Le pélican bleu.
-Ah ! Oui. (Elle hésita.) Il est magnifique.
Elle se pensait sincèrement.
-Pelecanus Marsupialius Stiegssonensis, déclama-t-il. J’espère que tu me pardonneras cette coquetterie dans le nommage de l’espèce. Comme son nom l’indique, et contrairement aux apparences, ce n’est pas un oiseau, mais un marsupial.
Jing comprit l’origine de la fente qui ornait le bas du ventre du pélican. Ce devait être la poche abdominale caractéristique de ce genre. Le spécimen qu’elle avait observé était donc une femelle. » (Position : 4288)
Mit diesem Roman stellt Gageac somit eine mögliche Zukunft dar, die Fiktion, Fanatastik und Wirklichkeit miteinander vermischt und dabei ein Ergebnis präsentiert, was als transhumanistischer Gesellschaftsentwurf interpretiert werden kann.
Technologie als (Er-)Lösung
Abschließend lässt sich sagen, dass der Roman mögliche Konsequenzen einer immer stärker technologisch durchdrungenen Welt in ihrer geopolitischen Bandbreite abbildet, wobei dem Aspekt der Überwachung und der vermeintlichen „Genoptimierung“ der Menschen eine besondere Rolle zukommt. Die Kritik an der Kontrolle durch den Staat zieht sich sogar bis in das Autorenprofil hinein: Remi Gageac gibt im Netz wenig bis keine Privatinformationen von sich preis. Es lässt sich mutmaßen, dass es sich bei der bedeckten Internetpräsenz um ein gewolltes Statement gegenüber Big Data und Überwachungstechnologien handeln könnte.Life++: La vie augmentée ist ein brisanter Roman: informativ und bildend, ohne in einen belehrenden Schreibstil zu rutschen, der mithilfe anregender Figuren und einer fesselnden Handlung, Einblicke in eine mögliche Zukunft eröffnet.
Steckbrief und Rezension von Carla Schulz im Rahmen des B.A. Seminars von Dr. Sofina Dembruk
Beiträge zur französischen Literatur
Beiträge zu anderen romanischen Sprachen
Comments are closed