Werk – Amalia Finisterre, eine junge Pflegekraft für Palliativmedizin wird in ihrem eigenen Zuhause brutal attackiert und muss anschließend ins Koma versetzt werden. Die Inspektorin Sara Toledano ist die leitende Ermittlerin in dem Fall. Hauptverdächtiger ist der Partner von Amalia, Matís Almeida, von dem jedoch am Tatort keine biologischen Spuren zu finden sind. Der Thriller basiert auf wahren Begebenheiten, die sich 2019 in Valencia ereigneten. Es handelt sich um ein Werk, das die geschlechtsspezifische Gewalt an Frauen thematisiert und das System dahinter an den Pranger stellt. Ähnliche Werke/ Filme: La casa de los esepíritus (Isabel Allende), Safe heaven (Nicolas Sparks), Der Unsichtbare (2020) VITA – Emilio Calderón, geboren 1960 in Málaga, studierte Geschichte der frühen Neuzeit an der UCM in Madrid. Er ist Verleger und Autor und widmete sich zunächst der Kinder- und Jugendliteratur. 1980 gründete er den Verlag „Editorial Cirene“ in Madrid. Unterstützt durch ein Valle-Inclán-Stipendium hielt er sich 2003 einige Zeit in Rom auf. | Werk – Eine fesselnde, leicht zu lesende Lektüre, die das Thema geschlechtsspezifische Gewalt an Frauen auf respektvolle Art und Weise behandelt und zugleich Kritik an dem System übt. Emilio Calderón verfolgt mit der Behandlung der Thematik einen Bildungsanspruch. Gleichzeitig reiht er sich in das gegenwärtig beliebte Genre des True-Crime ein, das vor allem junge Leser*innen fasziniert. |
Leseprobe – Erstellt und übersetzt von Jana Manu Glatt im Mentorat mit der Übersetzerin Lea Hübner
Deutsche Übersetzung
Die Inspektorin Toledano verzichtete darauf, den Namen des Unterzeichners zu lesen. Es reichte ihr. Während sie den Blick von dem Dokument, welches einzig und allein ein weiteres Plädoyer der Niedertracht war, abwandte, sprach sie laut vor sich hin.
„Er sagt, es ginge ihm nur um „Vergeltung“. Was ein Hurensohn. Armer Kerl. Noch so ein Scheiß-Arschloch. Noch so ein „Macho-Gott“, für den es nichts anderes gibt als sich selbst und seine Männlichkeit“, murmelte sie vor sich hin.
Schließlich wurde sie lauter, so als ob sie ihren Ärger durch die Wände ihres Büros schicken wolle, setzte sie hinzu:
„Was erwarten die, was wir mit dieser Scheiße tun? Sie uns einrahmen?“Was dachten sich die von da oben, ihnen so eine Zeugenaussage zu schicken? Warum sahen sie nicht der harten Realität ins Auge, anstatt einen auf Psychologen zu machen? Die Statistiken waren bestürzend. Ein Schlag ins Gesicht aller öffentlichen Entscheidungsträger, die die Maßnahmen nach der Ideologie ihrer jeweiligen politischen Parteien durchsetzten. In der Einheit für Frauen und Familie der Nationalpolizei und der Anlaufstelle für Missbrauchsopfer der Lokalpolizei waren mehr als tausend Frauen gelistet, die geschützt werden mussten, da ihr Leben in unterschiedlich hohem Maße gefährdet war. Die Zahl der Frauen, die in diese Gewaltspirale gerieten, stieg täglich um vier an, während die Anzahl der Festnahmen wegen Strafverstoßes (also unter anderem die Missachtung der Gewaltschutzverfügung) die vergangenen Monate die hundertfünfzehn überschritten hatte. Damit rutschte die Region Valencia mit fast fünftausend registrierten Fällen im Jahr 2018 auf Platz zwei des Rankings bezüglich Fällen mit geschlechtsspezifischer Gewalt. Diesbezüglich waren die Polizisten nicht speziell geschult, die Strafen waren lax, schutzlose Zeugen, eine Opferbetreuung war nicht vorhanden, die sozialen Dienste versagten und die Festnahmeprotokollen waren mangelhaft. Aus all dem resultierte, dass der Haupttäter das System war. Und dann, kurz bevor Sara beschloss, Feierabend zu machen, kam ihr ein altes Sprichwort aus dem Talmud in den Sinn: „Wir Menschen sehen die Dinge nicht, wie sie sind, sondern so, wie wir sind.“ Vielleicht wäre es nicht schlecht, diesen Spruch auf ein Plakat zu schreiben und es an einer der Bürowände aufzuhängen. Ja, vielleicht ginge es uns allen wirklich besser, wenn wir dazu in der Lage wären, uns so zu akzeptieren, wie wir sind, dachte sie.
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Der erste Schluck Whiskey vermochte Saras Aufgebrachtheit zu dämpfen. Das viele Koffein, das sie während ihres Arbeitstages zu sich nahm, half ihr dabei Schritt zu halten und ständig in Bereitschaft zu sein; der Whiskey hingegen öffnete die Tür zu einer entspannteren Welt, in der selbst für soziales Leben Platz war, wenn auch nur in absoluter Diskretion. In diesem Punkt, glaubte sie, bestanden gewisse Übereinstimmungen zwischen Amalia Finisterre und ihr selbst, ja, es gab gewisse Parallelen der Charaktere, die teilweise von ihren Berufen herrührten. Sie war zwar keine Sterbebegleiterin, doch war sie eine der Schutzengel für missbrauchten Frauen – wie sie von vielen Kollegen aus den anderen Polizeieinheiten genannt wurden. Allein in Valencia waren es mehr als siebenhundertfünfzig missbrauchte Frauen, welche Hilfe von der EFFA in Anspruch nahmen, was bedeutete, dass jedes Mitglied der Einheit für etwa siebzig davon zuständig war. Jede von ihnen war auf eine Art gefährdet, etwa ein Dutzend benötigte rund um die Uhr Überwachung. Diese potenziellen Opfer mussten überall hinbegleitet werden, ob zum Kauf von Kleidung für ihre Kinder, zum Supermarkt oder um bürokratische Angelegenheiten zu erledigen. In der Nähe der jeweiligen Adresse war sogar eine Zivilstreife platziert. Ja, sicher, Amalia verhalf ihren Patienten zu einem angenehmeren Sterbeprozess, während sie, Sara vielen anderen Frauen dabei half, am Leben zu bleiben. Auf den ersten Blick schienen die beiden Berufe komplett gegensätzlich, in Wahrheit jedoch hatten sie vieles gemeinsam: Da wäre die berufliche Hingabe – zum Beispiel fungierten sie beide als Beraterinnen oder als Vertrauenspersonen – sowie das Ziel, den Schmerz und die Angst von Patienten und Opfern zu lindern, das sie miteinander verband. Ganz zu schweigen von den Verlusten auf dem Weg dorthin. Wie Amalia in ihrem Notizbuch festgehalten hatte, ging ihr der Tod einer ihrer „Schützlinge“ besonders nahe; das Gleiche galt auch für sie. Der Mord an einer Frau durch ihren Partner erzeugte in ihr ein Gefühl von Ohnmacht, Unbehagen und Frustration, jedoch auch den starken Wunsch, dies zu überwinden und mehr geben zu können, damit solch ein Versagen nicht noch einmal vorkam. Wie es Amalia in ihrem Notizbuch niedergeschrieben hatte: „Der Dichter beendet niemals das Gedicht, es ist die Poesie, welche den Dichter verlässt.“
Nun, im Gegensatz zu Amalia, bevorzugte sie sporadische Beziehungen. In ihrem Fall hatte es noch nie einen Matís Almeida gegeben. Oder einen Jimmy Benson. Immer, wenn sie spürte, dass die Möglichkeit bestand, dass mehr aus einer Affäre werden könnte, rief sie sich die Worte ihres Ex-Kollegen ins Gedächtnis: „Die einzig langandauernde und verlässliche Liebesbeziehung, die ich kenne, ist die von Barbie und Ken. Unzerstörbar, genau wie das Plastik, aus dem ihre Körper und Seelen bestehen und dessen Zersetzung viertausend Jahre dauern wird. Alle anderen Beziehungen sind auf lange Sicht zu organisch.“ Abgesehen von der Übertreibung des Beispiels hatte ihr Freund und ehemaliger Kollege Recht. Alles Organische würde sich früher oder später als Folge von Abnutzung und Verschleiß zersetzen, innerhalb des natürlichen Lebenszyklus. Und die Liebe – als die lebendige Entität, die sie war – machte dabei keine Ausnahme. Solch eine Sichtweise auf Beziehungen zeigte dem Boot ihrer Emotionen, auf dem sie trieb andere Wasserstraßen / eröffneten ihrer Gefühlswelt neue Wege, so wie einem Boot neue Wasserstraßen. Egal wie tough sie versuchte, sich zu zeigen, egal wie dick ihr Fell war – dick wie ein Schutzschild – so war das Fehlen einer langfristigen Liebe doch nicht so ganz das Wahre. Manchmal fühlte sie sich von der Einsamkeit eingeengt, sogar isoliert, was dazu führte, dass sie ihre Arbeitsstunden erhöhte. Eine solche Reaktion – die nichts anderes war als eine Flucht nach vorn – machte deutlich, dass sie ein Problem damit hatte, ihre Emotionen zu steuern. Eines, was dem, woran die missbrauchten Frauen litten, denen sie beistand, ähnelte. Bedauerlicherweise war das nicht das Einzige. So viel Arbeit, so viel Stress hatten bewirkt, dass ihr eine psychische Erkrankung/sogenannte „Chronopathie“ diagnostiziert worden war; ein psychologischer Zustand, bei dem eine Person nicht in der Lage ist, ihre Aktivitäten einzuschränken, ohne unter den Auswirkungen auf ihren Organismus zu leiden. Kurz gesagt, sie konnte nicht aufhören zu arbeiten, denn sobald sie das tat, würde die schwindelerregende Welt, in der sie lebte, verschwinden. Würde sie die Arbeitszeit verringern, würde sich ihr Leben mit Leere füllen. Sie würde krank werden.
Steckbrief und Übersetzung von Jana Manu Glatt im Mentorat mit der Übersetzerin Lea Hübner
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Bildquelle
Emilio Calderón – https://www.diariosur.es/culturas/libros/emilio-calderon-sistema-20220404194644-nt.html
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