Werk – Wir schreiben das Jahr 2068. Die gebürtige Französin Cassandre Lanmordottir arbeitet mit ihrem zwölfköpfigen Start-up Team in einem abgelegenen Dorf an der isländischen Küste an Endless. Es handelt sich um ein geheimes Programm, dass Unsterblichkeit durch digitale Transparenz verspricht. Das Projekt schließt an Transparence an, einem „Heirats-Algorithmus“ zur Partnerschaftssuche, den Cassandre einige Jahre zuvor entwickelt und dann an Google verkauft. Ziel des Programms ist es ein perfektes Match zu generieren und alle potentiellen Risiken bei der Partnerfindung zu minimieren, indem die beteiligten Individuen einwilligen, über Computerchips, Kameras und diverse Sensoren konstant überwacht zu werden und so Informationen über ihre Person freigeben. Mit einer Erfolgsrate von 90% ist Transparence die Antwort auf die stetig steigende Scheidungsrate. Doch mit Endless findet die Idee vom gläsernen Menschen ihren Höhepunkt: Cassandre erschafft ihren eigenen, inkarnierten digitalen Doppelgänger und inszeniert einen Selbstmord durch ihr Double… VITA – Marc Dugain, 1957 in Dakar geboren, ist als französischer Schriftsteller und Drehbuchautor bekannt. Bevor er seine Karriere als Romanautor beginnt, absolviert er ein Studium der Politikwissenschaft und arbeitet als Manager der Proteus Airline. Das Gros seiner elf Werke wurde vom Verlag Gallimard publiziert, darunter auch Transparence (2019). Vereinzelt sind seine Romane bereits in die deutsche Sprache übersetzt, darunter auch La Chambre des officiers (1998), La Malédiction d’Edgar (2005) und Avenue des géants (2012). | Werk – Transparence liest sich als Kritik an einer technokratische Gesellschaft, in der Beziehungen und romantische Begegnungen über Dating-Apps optimierbar gemacht werden sollen. Der Preis für ein perfektes Match ist die absolute digitale Transparenz des Individuums. Dugains düsterer Thriller geht noch einen Schritt weiter und imaginiert eine Welt, in der der gläserne Mensch die Vorstufe zur Unsterblichkeit wird. Der Roman ist auch ein Weckruf, unseren Umgang mit der stetigen Digitalisierung des (sozialen) Lebens zu hinterfragen. Dugain prophezeit hier den Tod des ‚alten Menschen‘. |
Rezension
Transparence: technologische Göttlichkeit auf Erden?
Marc Dugain verleitet mit seinem Roman Transparence aus dem Jahre 2019 zu einem gesellschaftlichen Umdenken rund um die Themen Transhumanismus, Technologie und den möglichen Einfluss von Unsterblichkeit auf das gesellschaftliche Leben. Es wird sich mit dem Einsatz von Technologien auseinandergesetzt und der Frage wie man menschliche Fähigkeiten optimieren kann und darauffolgend die Grenzen menschlichen Daseins überwinden könnte. Des Weiteren wird damit experimentiert, inwieweit Liebe bzw. Kennenlernphasen von Technologien unterstützt werden.
Ethische Dilemmata in einer digitalisierten Welt der Zukunft
In Transparence wird der Leserin eine fiktive Welt teleportiert, die aufgrund der globalen Erderwärmung kurz vor einem Gesamtkollaps steht. Technologie-affine Menschen und Unternehmen sind darum bemüht, Lösungsstrategien für den Erhalt der Menschheit zu entwickeln. Im Zuge dessen stellt sich die Frage nach Überlebensmöglichkeiten: Unsterblichkeit scheint eine Option, die in Transparence zur Realität wird, indem Daten der menschlichen Seele in einen künstlich erschaffenen Körper übertragen werden. Darunter fällt unter anderem, dass über ein Leben hinweg diverse Informationen mithilfe der Technologien des Unternehmens gesammelt werden. Die Seele soll hierbei basierend auf diesen Daten reproduziert werden, in dem Werte und Eigenschaften übertragen werden. Das Programm Endless soll dies möglich machen. Die Bekanntgabe des Programms zieht immense Folgen mit sich. Dabei wird das Konzept von Privatsphäre neu definiert und die Identität und Grenzen der Menschheit auf die Probe gestellt. Ist es moralisch vertretbar, dass ein Unternehmen über jegliche persönlichen Informationen verfügt? Auch wenn dies mit Einverständnis der jeweiligen Personen geschieht, wandelt sich die Bedeutung von Privatsphäre. Inwiefern handelt es sich noch um diskrete Informationen, wenn diese digital von Unternehmen abrufbar sind, die durchaus gehackt werden könnten? Menschliche Beziehungen und Kommunikation werden infrage gestellt, wenn man an das ursprüngliche Vorhaben der Partnervermittlung von Transparence denkt. Wie gestaltet sich die Kennenlernphase, wenn bereits alle Informationen zur Person bekannt sind?
Transparence heißt das Unternehmen, welches das Programm „Endless“ in den 2060ern auf den Markt bringt. Der Schwerpunkt des Unternehmens liegt auf der Sammlung und Verarbeitung persönlicher Daten von Individuen. Ursprünglich widmete sich das Unternehmen der Findung von Liebespaaren. Anhand besagter Informationen solle das perfekte Match gefunden werden. „Endless“ knüpft daran an und hat zum Ziel, das Bewusstsein eines Menschen mithilfe der zur Verfügung stehenden Daten detailgetreu in einem künstlichen Körper zu rekonstruieren, um somit dem Tod zu entgehen. Ewigkeit, ein Konzept, das bisher nur von Religionen monopolisiert wurde, findet nun Halt in der weltlichen Realität, wodurch die gesamte Welt ins Stolpern gerät. Die Geschwindigkeit dieses Veröffentlichungs-Prozesses ist nahezu unglaublich.
Cassandre Landmordottir, die Unternehmensführerin von Transparence, wird mit diesem Durchbruch zum Abbild einer Prophetin, wenn nicht sogar zu einer Göttin. Cassandre kann womöglich auch als Anlehnung an den Kassandra-Mythos verstanden werden, welcher sich um die unvorteilhafte Nutzung einer Gabe handelt. Cassandre verfügt über die Möglichkeit menschliche Seelen zu duplizieren, muss sich jedoch unter anderem einigen Skeptiker:innen und diverser Herausforderungen stellen. Im Buch wird sie dabei begleitet.
Sie generiert einen eigenen, reinkarnierten Doppelgänger und inszeniert einen Suizid, indem der reinkarnierte Doppelgänger ihre fleischliche, nichtkünstliche Hülle in den Tod stürzt. Ein drastischer Auftritt, der die Aufmerksamkeit auf sie und ihr Programm richtet. Mit diesem Ereignis tritt sie in die Öffentlichkeit und erläutert, wie man an diese Unsterblichkeit ihres Programmes gelangt. Sie möchte dies nämlich nur einer bestimmten Sorte von Menschen anbieten.
„Transparence“ als religiöse Bewegung
In mehreren Kapiteln sind klare Analogien zum Christentum erkenntlich. Das Unternehmen „Transparence“ besteht neben Cassandre aus zwölf weiteren Mitarbeitenden, die sich regelmäßig versammeln und absprechen. Wenn man bedenkt, dass Jesus ebenfalls von zwölf Aposteln umgeben war, scheint die Zahl zwölf nicht willkürlich gewählt worden zu sein. Zumal sich im weiteren Verlauf des Buches herausstellt, dass sich unter den zwölf Mitarbeitenden ein Denunziant befindet, eine Judas-Figur. Im 18. Kapitel spricht Cassandre explizit davon, dass der Besprechungstisch ihres Teams dem Abbild des letzten Abendmahles gleiche. Dort erläutert sie des Weiteren, dass sie als Vorreiterin des Programms eine leitende und prophetische Position einnehmen müsse. Ähnlich wie Jesus Christus, der seiner Gefolgschaft den Weg leitete: « Je suis la prophète de la parole du Christ. Tout était dans le Nouveau Testament mais vous l’avez dévoyé au profit de l’Église et de ses combines avec les pouvoirs temporels. » (S. 130) Diese Aussage trifft sie in einem Gespräch mit diversen Kardinälen der katholischen Kirche, die sie und ihr Programm infrage stellen. Dass die Kirche sich um ein Gespräch mit ihr bemüht, ist wohl darauf zurückzuführen, dass „Transparence“ die Institution der Kirche mit ihrer Daseinsberechtigung und Legitimität in der Gesellschaft bedroht.
Cassandre ergreift eine äußerst machtvolle Position und sieht ihre Aufgabe darin, den Menschen, der vom Aussterben bedroht ist, neu zu erfinden und in Einklang mit der Natur zu bringen.
Kompensation schwieriger Familienverhältnisse
Was für ein Mensch steckt hinter solch einem göttlichen Abbild? Das Buch bietet einen Einblick in das Privatleben von Cassandre. Bereits zu Beginn erfährt man, dass sie mit einem Mann, Elfar, in einer vermeintlich romantischen Beziehung zusammenlebt, welche jedoch mehr von Distanz als von Nähe geprägt ist. Sie spricht mit Elfar nicht über ihre Vorhaben mit „Endless“ und kompensiert die Defizite im Privatleben mit ihrer Arbeit. Elfar tut seine Wut über diese Situation kund und erklärt, dass dieses öffentliche Erregen und die weltweite Präsenz von Cassandre ihm viel Unbehagen bereitet, da sein Verhältnis zu ihr ihn in Schwierigkeiten bringen könnte.
Elfar erwähnt, dass sie einen gemeinsamen Sohn haben, welcher vor einiger Zeit verschwand, um seiner Obsession eines Lebens mit Bären nachzugehen. Er wirft Cassandre vor, dass sie „Endless“ lediglich ins Leben rief, da sie einem ganz grundsätzlichen menschlichen Instinkt nicht nachkommen konnte. Sie verteidigt sich, indem sie betont, dass sie nur denjenigen Menschen ewiges Leben gewähren wolle, die die Umwelt respektieren; das heißt, Menschen, die etwas von sich an folgende Generationen weitergeben. Beim Lesen lassen sich allerdings diverse Perspektiven feststellen: zum einen den Verlust des Kindes und dessen psychische Auswirkungen; zum anderen das, was Elfar sagt: « Maintenant je comprends pourquoi tu es obsédée par cette idée d’immortalité, tu as négligé ta descendance. Tu n’étais plus le passage d’une génération à l’autre, tu étais là pour toujours et inconsciemment tu as détruit cette descendance. » (S. 119).
Cassandre verfügt über einen Machtkomplex, weswegen sie sich selbst als eine Art Gottheit inszeniert und ewiges Leben für einen ausgewählten Kreis propagiert. Das Ziel von „Endless“ diene ja dem Schutz der Umwelt, da lediglich denjenigen Menschen das ewige Leben gewährt werden soll, die gemeinschaftsfähig sind und sich um einen respektvollen Umgang mit der Umwelt bemühen. Hinsichtlich der etwas komplizierteren familiären Verhältnissen lässt sich auch nur spekulieren, ob sie mithilfe ihres Programmes eine Duplikation ihres Sohnes generieren möchte. Hierbei stellt sich auch die Frage, ob ein künstliches Wesen jemals die Menschlichkeit vollumfänglich gewähren könnte.
„Transparence“ ist politisch
Cassandre übt stets Kritik an bestehenden politischen Gegebenheiten sowie damit einhergehenden wirtschaftlichen, kapitalistischen Systemen. Diese führen dazu, dass die Menschen immer mehr Bedürfnisse entwickeln, die es zu erfüllen gilt. Um dies zu gewährleisten, werden beispielsweise der Planet und diverse Ressourcen ausgebeutet. Hierbei wurde bisher nur wenig Rücksicht darauf genommen, welche Konsequenzen dies für potenzielle weitere Generationen haben könnte. Im Laufe des Buches erfahren wir, dass die künstlichen Hüllen der Unsterblichen beispielsweise einige überlebenswichtige Dinge nicht benötigen, wie Nahrungsaufnahme und Trinken. Allein dadurch würden viele Ressourcen gespart werden.
Sie möchte allen Unsterblichkeit anbieten, die sie verdienen und berücksichtigt dabei weder die Herkunft noch den sozialen Status eines Menschen. Cassandre bekämpft auf diese Weise den Kapitalismus, der maßgeblich zur Zerstörung der Umwelt beiträgt. Auch wenn die Anforderungen grundsätzlich nichts Unmögliches sind, versteckt sich hinter dem Auswahlprozess stets das Programm „Endless“ und das Team von „Transparence“, welches aus Cassandre und ihren zwölf Kolleg:Innen besteht. Ab wann ist es in Ordnung, maßgebliche politisch gravierende Entscheidungen über die Köpfe anderer hinweg zu treffen, wenn diese das gesamtgesellschaftliche Leben beeinflussen? Cassandre wird genau zu dem Typ von Mensch, den sie fragwürdig findet. Sie verlangt beispielsweise einen nichtmonetären Handel und reproduziert nichtsdestotrotz alte Systeme der Unterdrückung und Zerstörung.
Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass Dugain in seinem Werk auf komplexe Weise die moralischen Konsequenzen einer transhumanistischen Zukunft, in der technologische Erfolge mit tiefgründigen ethischen Fragen einhergehen, beleuchtet. Cassandre stellt die Personifikation dieser ethischen Dilemmata dar und steht im Fokus einer Erzählung, die die Leser:Innen dazu anregt sich Gedanken über die Grenzen von Technologie, Ethik und menschlichem Streben zu machen. Es werden grundsätzlich Fragen zum Menschlichkeitskonzept aufgeworfen. Inwieweit kann man die von „Endless“ entworfenen künstlichen Hüllen noch als Menschen auffassen, wenn diese die vermeintlichen Eigenschaften reformieren? Inwieweit können digitale Großkonzerne Einfluss auf die politischen Machtverhältnisse in unserer Realität zukünftig noch nehmen?
Dugain präsentiert eine Dystopie, in der Transparenz und Überwachungen stets präsent sind. Durch seine Darstellung, in der Privatsphäre und individuelle Freiheiten zugunsten eines höheren Zwecks eingeschränkt sind, kritisiert er die steigenden Machtgefälle von technologischen Unternehmen und den Verlust persönlicher Daten. Darüber hinaus spielt Dugain mit der Art wie Menschen ihre Identität und ihr Selbstwertgefühl von der öffentlichen Meinung beeinflussen, manipulieren und sogar missbrauchen lassen. Ohne genaueres zu verraten, endet der Roman mit einem Misserfolg.
Steckbrief und Rezension von Vanessa-Aliéna Adam im Rahmen des B.A. Seminars von Dr. Sofina Dembruk
Beiträge zur französischen Literatur
Beiträge zu anderen romanischen Sprachen
Bildquelle:
Marc Dugain – https://www.radiofrance.fr/franceinter/podcasts/la-bande-originale/marc-dugain-pour-transparence-6925553
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