WERK – Micol Arianna Beltramini erzählt in ihrem Buch La mia amica scavezzacollo über eine Begegnung, die ihr ganzes Leben verändert hat.Micol wohnte schon seit circa zehn Jahren im Navigli-Viertel in Mailand und es verging kein einziger Tag, an dem sie nicht die ältere Dame mit ihrer nach vorne geknickten Wollmütze auf den Straßen Mailands sah. Sie ging immer zu ein und derselben Zeit an der Vineria in der Via Casale, in die Micol fast jeden Abend mit ihrem Freund ging, vorbei. Alle „kannten“ die ältere Damen, jedoch traute sich nie jemand sie anzusprechen. Bis Micol all ihren Mut zusammen nahm und sie eines Abends ansprach, um sie zum Essen einzuladen. Von diesem Moment an wuchs ihre Beziehung immer weiter und entwickelte sich zu etwas Einzigartigem.In diesem Buch geht es jedoch nicht nur um die Entstehung einer einzigartigen Freundschaft, sondern auch, um das Einhalten eines Versprechens: Patatina zum allerersten Mal ans Meer zu bringen.Nicht nur die Emotionalität der Geschichte macht dieses Buch besonders, sondern auch der Schreibstil der Autorin. Micol schafft es vom ersten Satz an die Leserschaft mit in ihre Geschichte zu ziehen, indem sie sie direkt anspricht. Durch ihren sehr umgangssprachlichen Stil wirkt es so real, als würde sie direkt vor einem stehen und ihre Geschichte erzählen. Zudem schafft sie es mit ihrer humorvollen und doch ernsten Art und Weise die Leserschaft im selben Moment zum Weinen und zum Lachen zu bringen.Jeder, der den Titel La mia amica scavezzacollo liest hat sofort ein bestimmtes Buch im Kopf: La mia amica geniale (2011) von Elena Ferrante. Nicht nur im Titel ähneln sich die beiden Bücher, sondern auch in ihrem Thema. In beiden geht es um die Begegnung zweier Mädchen beziehungsweise Frauen, wie sie sich gegenseitig beeinflussen und wie sich im Laufe der Zeit eine feste und einzigartige Freundschaft zwischen beiden entwickelt. 

Vita – Micol Arianna Beltramini, 1978 in Cagliari geboren, wurde durch ihren Bestseller 101 cose da fare a Milano almeno una volta nella vita (2008) berühmt. Seitdem veröffentlichte sie einige Bücher wie Vieni mi nel cuore1 (2011), Che sfiga! Storie di gente che ha cambiato il mondo ma poi qualcosa è andato storto (2018) und La mia amica scavezzacollo (2022). Ihr neustes Comic ist dagegen die Biografie von Jeff Buckley: Last Goodbye. Untributo a Jeff Buckley (2019). 

1 Benannt nach ihrem Blog, über den ihre Geschichte mit Patatina bereits bevor sie La miaamicascavezzacollo geschrieben hat, berühmt wurde.
WERK – Unser Leben heutzutage besteht größtenteils aus Hektik und viel Stress. Jeder hat immer viel zu tun, hetzt von einem Termin zum nächsten und überall hört man die Leute sagen „Tut mir leid, ich habe leider keine Zeit.“ Und wenn sie nicht gerade durch die Stadt hetzen, sind sie in ihrem Smartphone vertieft und bekommen nichts von ihrer Umgebung mit. Die Menschen sind zunehmend mit sich selbst beschäftigt und nehmen ihre Mitmenschen gar nicht wirklich wahr. Und das ist eine unfassbar traurige Tatsache. Mit La mia amica scavezzacollo zeigt Micol was wirklich zählt: Nächstenliebe. Von dem Tag an, an dem sie all ihren Mut zusammennahm und Patatina ansprach, veränderte sich ihr Leben. Wir sollten uns alle viel mehr für unsere Mitmenschen interessieren und denjenigen helfen, die es am nötigsten haben. Micol zeigt, dass, wenn man nur den Mut hat, aus einer Begegnung etwas Einzigartiges entstehen kann. Zudem würde es sich lohnen dieses Werk ins Deutsche zu übersetzen, da die Belletristik auf dem deutschen Buchmarkt weiterhin die stärkste Kraft ist. Im Jahr 2021 stand sie mit einem Umsatzanteil von 31,9 Prozent an der Spitze des Buchhandels.

Leseprobe – Erstellt und übersetzt von Lena Hering im Mentorat mit der Übersetzerin Dr. Ulrike Schimming

Deutsche Übersetzung


I.

Ich schreibe dieses Buch, um euch auf den neusten Stand hinsichtlich meiner tollkühnen Freundin zu bringen. Ihr richtiger Name ist Maria Antonietta, aber in den Kreisen, in denen sie verkehrte, kannte man sie als Mariuccia. Wenn ich mit meinen Freunden über sie spreche, nenne ich sie Mary, aber wenn ich mit ihr persönlich rede, was etwa jeden zweiten Tag vorkommt, dann nenne ich sie Patatina, Kartoffelchip. Ich weiß nicht, ob ihr dieser Spitzname gefällt, aber es scheint mir, als würde sie ihn mit einer angemessenen Gelassenheit ertragen.

Der Grund, warum ich sie Patatina nenne, liegt im gesellschaftlichen Umfeld, in dem wir uns kennengelernt haben. Wir beide haben Wurzeln in Mailand geschlagen, um genauer zu sein im Navigli-Viertel. Ich habe meine Zelte hier vor rund zehn Jahren aufgeschlagen, Patatina dagegen, wenn ich richtig gezählt habe, vor etwa achtzig Jahren. Fast ihr ganzes Leben hat sie im zweiten Stock in der Via Casale gelebt, eine der engen Gassen, die das Viertel Porta Genova mit dem Naviglio Grande verbindet. Patatina erzählte mir einmal, dass in der Via Casale früher nur Felder gewesen seien. Soweit sie weiß, gab es in den Jahrzehnten vor dem Krieg viele Tiere, die zwischen den Hauseingängen weideten. Sie sind der Größe nach verschwunden: zuerst die Kühe, dann die Ziegen und zum Schluss die Schweine. Offenbar waren die Gänse die letzten, die gingen, denn sie waren hartnäckiger und verteidigten sich bis zu ihrem letzten Atemzug.

Aus jener Zeit gibt es eine Vineria, eine Weinbar, in der Via Casale. Ich bin fast jeden Tag dort, seitdem die Bar, die ich früher regelmäßig besuchte, vergangenes Jahr geschlossen wurde. Die Vineria ist ein sehr guter Ersatz, jedoch hat sie zwei Nachteile. Zum einen hat sie nur draußen Tische, was für den Winter sehr unpraktisch ist. Zum anderen bündelt sich der gesamte Wind Mailands in der Via Casale, was im August angenehm ist, jedoch eher weniger im März. Zurzeit haben wir Mai und es ist saukalt draußen. Es soll Leute geben, die Wind mögen. Für mich unvorstellbar, denn ich hasse ihn. Ich habe fast aufgehört, nach Patatina Ausschau zu halten. Es sind schon acht Monate vergangen, seitdem sie nicht mehr an der Weinbar vorbeizuckelt. Ich weiß genau warum, aber die Macht der Gewohnheit verteidigt sich schlechter als die Gänse.

Patatina und ich haben uns vor fast einem Jahr kennengelernt. Sie wusste damals nichts von meiner Existenz. Ich von ihrer schon, denn es gab keinen einzigen Tag, an dem ich sie nicht auf der Straße sah. Auch wenn unsere Wege sich einmal nicht kreuzten, war ich mir sicher, dass sie irgendwo da draußen war, mit ihrer nach vorne geknickten Wollmütze, und einen Schritt pro Stunde zurücklegte. Egal, ob es August oder Januar war, sie trug immer ein und dieselbe Mütze. Aus diesem Grund nannte ich sie zu jener Zeit noch Signora Schlumpf und nicht Patatina.


Steckbrief und Übersetzung von Lena Hering im Mentorat mit der Übersetzerin Dr. Ulrike Schimming

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Das Projekt


Bildquelle:

Micol Arianni Beltramini – https://www.ilgiornaleditalia.it/news/costume/434276/micol-arianna-beltramini-chi-e-scrittrice-libri-carriera-biografia-vita-privata.html

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