Ilaria Gaspari


Werk – In diesem Roman erzählt Ilaria Gaspari von ihrem Studium an der Scuola Normale Superiore in Pisa, einer Eliteuniversität, an der u.a. die beiden Ex-Präsidenten Italiens Giovanni Gronchi und Carlo Azeglio Ciampi sowie drei Nobelpreisträger ihre Karrieren begannen. Zehn Jahre nach ihrem Abschluss kehrt die Protagonistin Gaia an den Ort ihrer Jugend zurück. Sie trifft im Spätherbst in Pisa ein und wird sofort in ihre Erinnerungen an die alten Tage zurückgeworfen, die nicht gerade von einer jugendlichen Sorglosigkeit geprägt waren. Der Grund für Gaias Rückkehr ist nicht die Sehnsucht nach dem Ort ihrer Jugend, sondern der mysteriöse Tod ihrer ehemaligen Kommilitonin Virginia. Im Polizeiverhör wird Gaia nicht nur mit ihrem alten Freundeskreis konfrontiert – Menschen, von denen sie sich genauso distanziert hat, wie von der Stadt, die sie verbindet – sondern auch mit ihrem Ex-Freund Marcello. In Etica dell’Acquario reisen wir in ein graues Pisa, einen Ort, an dem Jugendliche einem enormen Leistungsdruck ausgesetzt sind. Die Scuola Normale Superiore, die Elitehochschule im Herzen der Stadt, ist geprägt von Konkurrenz, Gerüchten, Egoismus und einer Abgeschiedenheit von der Außenwelt. Wie der Titel des Buches bereits erahnen lässt, vergleicht Gaia die Scuola mit einem Aquarium – es lohnt sich, dieser spannenden Metapher auf den Grund zu gehen. 

VITA – Ilaria Gaspari, 1986 in Mailand geboren, studierte Philosophie an der Scuola Normale Superiore in Pisa. Danach zog Gaspari nach Paris, wo sie an der Sorbonne promovierte. Heute lebt und schreibt die Autorin in Rom. Sie arbeitet mit diversen Zeitungen und Radio3 zusammen. Darüber hinaus bietet Gaspari Schreibkurse an. Auf Eticadell’Acquario (2015) folgten Werke wie Lezioni di felicità (2019) und Vita segreta delle emozioni (2021), die bei Einaudi veröffentlicht wurden.
Werk – Mit ihrem detaillierten und philosophischen Stil verbindet Ilaria Gaspari in Etica dell‘acquario Krimi und Jugenderzählung. Da ihre Kritik den großen italienischen Verlagen zu brisant war, kam Gasparis Debütroman bisher nicht der Erfolg zu, den er verdient hat. Nie zuvor bot sich ein derart tiefer Einblick in das Leben einer Eliteuniversität, die einige der wichtigsten Personen Italiens hervorgebracht hat.    

Leseprobe – Erstellt und übersetzt von Clara Mathilda von Lingen im Mentorat mit der Übersetzerin Dr. Ulrike Schimming

Deutsche Übersetzung


Lange glaubte ich, Pisa vergessen zu müssen. Aber nach jeder Flucht kam ich doch wieder zurück. Mal traf ich in der Abenddämmerung am Bahnhof ein, mal landete ich morgens mit dem Flugzeug, die Sonne schien und ich stieg in ein weißes Taxi, zu einem Taxifahrer, der gern plauderte. Und plötzlich hörte ich ihn wieder, diesen Akzent, bei dem ich mir immer noch nicht sicher war, ob er für mich unentbehrlich oder unerträglich war. Oder beides.

Es waren Jahre vergangen, in denen ich nicht zurückgekehrt war, doch dann saß ich eines Tages im Flugzeug. Die Sonne schien und ein Hauch von Schnee bedeckte die niedrigen und klaren Berge. Die Häuser waren rissig und still wie damals, der Fluss vom Schlamm gefärbt, reißend voll wegen des Herbstregens. Der Taxifahrer wollte plaudern, doch ich erschrak bei dem Gefühl, dass all die Erinnerungen, die ich mit den Jahren immer wieder loswerden wollte, zurückkehrten, um mich zu quälen. Und ich begriff, dass ich gar nichts vergessen hatte. Vielleicht hatte ich auch nur Angst, mich plötzlich alt zu fühlen, in einer Stadt, in der ich gelebt hatte, als noch kein Leben existierte. In Pisa gehörte es sich nicht, erwachsen zu sein und Ziele zu haben, zumindest kam es mir und meinen Freunden damals so vor. Doch natürlich hatten wir alle ein Leben, haben unsere Jahre und Träume an andere Orte geschleppt und uns eingeredet, Pisa vergessen zu haben. Natürlich täuschten wir uns. Und das sollte uns schon bald klar werden.

[…]

Die Scuola war eine kleine Gemeinschaft inmitten einer kleinen Stadt. Die Stadt ignorierte die Scuola, und die Scuola ignorierte die Stadt. Gemeinsam eingeschlossen im antiken Herzen der Innenstadt, lebten fünfhundert Studentinnen und Studenten zwischen neunzehn und fünfundzwanzig, bestimmt zu großen intellektuellen Unternehmungen oder aber zu großer Frustration. Zum Nutzen von etwas kaum Wahrnehmbaren, das sie Exzellenz nannten, lebten, aßen und schliefen diese fünfhundert Studenten in großen und kleinen Zimmern, über denen der riesige Schatten des Palazzo schwebte, in dem immer nur gelernt wurde. Denn man konnte zwar schlecht leben, aber man durfte nicht schlecht lernen. Man konnte hässlich sein, mit zwanzig verwelken, aber man musste ehrgeizig bleiben. Jeder Tag drehte sich um die acht Stunden Studium in der Bibliothek. Das Studium wurde schon ab dem ersten Semester von allen als Arbeit bezeichnet, um sich von den anderen Studenten abzugrenzen, denjenigen, die nichts mit der Scuola zu tun hatten. Wir waren dazu bestimmt, Fachleute zu werden, wenn wir denn die Auslese im Wohnheim, in der Mensa und in der Bibliothek überleben würden: Sie richteten uns darauf ab, alles zu wissen, was man über ein Thema wissen konnte, mit dem sich nie zuvor jemand beschäftigt hatte. So gelang es ausgerechnet der Rhetorik der reinen Wissenschaft, merkwürdige Formen der Entfremdung zu schaffen. Da war die Arbeit, und nach der Arbeit war da die Freizeit, die man in den Gemeinschaftsräumen verbrachte, in der Mensa oder vor dem Fernseher. Die Kommilitonen waren die reinste Bewährungsprobe, manche waren Freunde, manche Feinde, manche Konkurrenten; doch das Wichtigste war immer, sich den anderen durch die gemeinsame Zugehörigkeit zum Reich jener undefinierbaren, kaum fassbaren Exzellenz verbunden zu fühlen.

Das Alter machte alle reizbarer; das unfreiwillige Zusammenleben konnte zum Zwang werden; die Abgrenzung von der Außenwelt, von dieser Stadt, die draußen schlummerte, hatte etwas Grausames. Die dauerhafte Beobachtung durch die anderen wurde bald zur Obsession; der Ehrgeiz zu einer mystischen Bestimmung, die Gruppe zum Rudel. Und der Verzicht zur Verdrossenheit. In der schleppenden Eintönigkeit seiner alltäglichen Rituale hatte das Leben der Scuola seinen eigenen Moralkodex entwickelt.

[…]

Damals machten Gerüchte die Runde an den Tischen der Mensa, gelangten über die Treppen der Bibliothek nach oben, in die geschlossenen Zimmer; und durch Konkurrenz und Eifersucht, durch Missverständnisse und Individualismus, dem Klebstoff dieses gierigen Korpsgeistes, konnten sie grausam werden. Da war stets etwas Primitives, wie in der Kaserne oder im Gefängnis, ein Gefühl unterdrückter Gewalt unter diesen Halbwüchsigen, die viel zu früh erwachsen werden mussten. Eines Tages, lange nach meiner Ankunft, konnte ich es deutlich erkennen. Es war der Tag, an dem ich die Fische im Teich des Wohnheims anstarrte, und mir alles klar wurde. Der kleine Teich im Garten war in Wirklichkeit ein Zementbecken, doch das Wasser war grün und still und der Grund dunkel und die Fische, die darin schwammen, hatten keinerlei Ähnlichkeit mit den Fischen, die ich zuvor gesehen hatte. Es hätten Goldfische sein können, doch sie waren zu groß, und das Rot verblasste zu einem fahlen Rosa mit weißen Flecken an der Stelle, wo sich die Bäuche dehnten und transparent wurden. Man sagte, dass sich die unförmigen und glänzenden Bäuche dieser riesigen Fische entwickelt hatten, weil irgendjemand eines Tages Piranhas in das Becken geworfen hatte, um zu sehen, was passiert. Es habe ein Gemetzel von Goldfischen gegeben, und ich stellte es mir blutig vor, dort in dem Teich, und mir das vorzustellen, rief in mir eine Befriedigung hervor, für die ich mich schämte. Zudem hieß es, dass die wenigen Überlebenden gigantisch geworden seien und dass sich ihre Körper zu diesen transparenten Kreaturen ausgedehnt haben.

Matteo war seit Kurzem verschwunden und an dem Tag, an dem ich stehen blieb und in den Teich starrte, begriff ich endlich alles. In dem Zementbecken, in dem die Fische diese monströsen Eigenschaften entwickelten, um zu überleben, versumpfte das Wasser, wurde grün und moosig; und plötzlich erkannte ich, dass das Leben an der Scuola dem in einem Aquarium glich. Darum überkam mich also dieses Gefühl von Exil an einem unnatürlichen Ort, an dem es von Zeit zu Zeit wilder und gewalttätiger werden konnte als in der Außenwelt.


Steckbrief und Übersetzung von Clara Mathilda von Lingen im Mentorat mit der Übersetzerin Dr. Ulrike Schimming

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Bildquelle:

Ilaria Gaspari – https://www.italiandesigninstitute.com/employees/ilaria-gaspari/

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