Massimiliano Alberti


Werk La Piccola Parigi ist eine Hommage des Autors an seine Heimatstadt Triest, besonders an das vergessene Viertel „Klein-Paris“ mit überwucherten Gebäuden und feuchten Innenhöfen, welches das Leben des Protagonisten Lorenzo und dessen Beziehungen prägt. La PiccolaParigi ist ein Roman über die Lebensgeschichten der Figuren, die in ihm zum Leben erweckt werden, die zum Teil schwierige und auch schmerzhafte Wege kreuzen. Es sind Geschichten von jungen Menschen, die in unkonventionellen, aber nicht weniger funktionierenden Familien aufwachsen und die Liebe und Freundschaft, die sie verbindet. Eine stilistische Besonderheit dieses Romans sind seine langen Schachtelsätze, in denen der Ich-Erzähler detailliert und anschaulich Reflexionen und Beschreibungen teilt, die dem Leser dank des simplen und klaren Schreibstils sofort verständlich sind. Das Werk weist viele Ähnlichkeiten zu seinen anderen bereits veröffentlichten Romanen auf, in denen auch die Freundschaften und das gemeinsame Aufwachsen in einer Stadt, sei es in Triest (L’invitato) oder Lwiw, Ukraine (Vynnykibazar) und der Ausbruch aus den „Mauern“, die die Lebensumstände setzen, thematisiert werden.Mit dem Roman La PiccolaParigi gewann Massimiliano Alberti den XI. Internationalen Montefiore-Literaturpreis in der Kategorie „Logos Cultura“, wurde Finalist für den Literaturpreis „Pontremoli – Città del Libro e della Famiglia“ und erhielt ein Ehrendiplom als Anerkennung des Schweizer Literaturpreises. 

VITA – Massimiliano Alberti wurde 1979 in Triest als Enkel des Bildhauers Tristano Alberti geboren und wuchs zwischen dessen Skizzen und Statuen auf. Während seines Studiums arbeitete er in einem großen Kaffeeunternehmen, wo man ihm das Streben nach Exzellenz lehrte. Er verbrachte viel Zeit weit weg von seiner Heimatstadt und lebte in Momenten der Einsamkeit seine Leidenschaft für Bücher und das Schreiben aus. Im Jahr 2018 veröffentlichte Alberti seinen Debütroman L’invitato. Darauf folgten La PiccolaParigi (2020) und Vynnykibazar (2022)
Werk – Es wäre lohnenswert, dieses Werk ins Deutsche zu übersetzen, da der Schreibstil von Alberti gleichzeitig simpel und mitreißend ist. Die im Werk mitschwingende Nostalgie über unsere Kinderfreundschaften und die kleinen Krisen dieser Zeit erweckt ein Gefühl, mit dem sich jeder Leser identifizieren kann. Es ist jedoch fraglich, ob dieses Werk auch auf dem deutschsprachigen Buchmarkt großen Erfolg hätte.  

Leseprobe – Erstellt und übersetzt von Marisa Otto im Mentorat mit der Übersetzerin Dr. Ulrike Schimming

Deutsche Übersetzung


[…] Ich bin in einer Stadt im äußersten Nordosten des Stiefels geboren und aufgewachsen, wo für mehr als fünf Jahrhunderte die Fahne der Habsburger und etwa drei Mal auch die der Franzosen wehte. Es geschah in der dritten und letzten Besetzung der Grande Armée, dass kleine Häuser errichtet und dicht an dicht aneinandergereiht wurden, auf einer engen Landzunge, die sich den Hügel hinauf erstreckt. Es ist eigenartig, wenn man sich vorstellt, dass diese Mauern damals eine Zuflucht für Soldaten und Rosse waren. Ställe und Häuser, die einen angenehmen Aufenthalt boten. Ob nun Legende oder Tatsache, aber man erzählt, dass dort sogar Napoleon Bonaparte höchstpersönlich ein Nickerchen machte, wenn auch – oder gerade – aus berechtigtem Desinteresse und nicht aus Unwissenheit. Heute erinnert sich niemand daran, was er vielleicht wusste. Schließlich gibt es viele Geschichten über Krieg und Tod, sogar über fröhliche Trinker und freizügige Frauen. Nichts jedoch ist mit einer bedrückten und frustrierten Kindheit vergleichbar. Und eine bedrückte und frustrierte Kindheit in einem heruntergekommenen Viertel ist doppelt schlimm. Um also den Gestank von Höfen und feuchten Gassen deutlich zu machen, enthülle ich ein anderes Bild eines alten Dorfes, das sich von der üblichen romantischen Vorstellung völlig unterscheidet: steile Treppen, bröckelnder Putz, ein jahrhundertealter Baum, der von der Gemeinde verschont blieb, und Wäsche, aufgehängt an ausgefransten Schnüren, die von quietschenden Seilzügen gespannt werden. Zwischen den Hecken und dem hohen Gras ein paar Katzen, eine Schar von Spatzen auf den Ästen, und eine wachsame Maus, die sich in einem Loch versteckt und die Schritte der Passanten beobachtet. Gleich hinter den Stadtmauern ein Waschsalon und ein seit langem geschlossener Obstladen mit einem baumelnden Schild, das im Laufe der Zeit an Farbe und Hoffnung verloren hat: ZU VERMIETEN. Ob man will oder nicht, so wie ein Tier hat auch der Mensch eine Herkunft. Und es genügt nicht, den Vorurteilen der eigenen Stadt oder der ganzen Provinz oder sogar des Landes zu entfliehen, sondern man muss sich auch – ja vor allem – mit denen des Viertels auseinandersetzen, in dem man geboren wurde und dessen Kind man in gewisser Weise ist.Unseren ersten großen Sieg haben wir als herumschwänzelnde Spermien errungen und ließen dabei Millionen von Artgenossen sterben, ohne dass sich einer von uns die Mühe gemacht hätte, ihnen einen Rettungsring zuzuwerfen. Die Kehrseite dieser Medaille, die aus lauter Enttäuschungen besteht, ist also das Leben. Und um auch nicht all die einkassierten Ohrfeigen zu vergessen, denke ich an meine Zeit auf der Schulbank, als ich mit Papierkügelchen beworfen wurde, nachdem ich den Namen meiner Straße genannt hatte. Doch ist man nie das einzige Opfer eines Systems, und in der Tat ereilte das gleiche Schicksal zwei andere in meinem Alter, einen blassen und schmächtigen Jungen namens Christian und einen ziemlich stämmigen namens Tullio. Wir waren die mit den schlammverschmierten Schuhen. Die aus Corte Fedrigovez.

[…] Das Haus, in dem Christian mit seiner Großmutter wohnte, war ein in die Jahre gekommenes Doppelhaus in der Via San Felice. Ihre Wohnung befand sich im Erdgeschoss und die Fenster zeigten auf die schmale Durchgangsstraße. Auf der alten Tapete an den Wänden glitzerten Tropfen aus Kondenswasser. Sowohl am Fenster als auch an der Eingangstür waren kleine Katzenklappen, damit die Vierbeiner, deren Anwesenheit man deutlich roch, rein und raus konnten. Die Küche trennte das Schlafzimmer der Großmutter von dem des Enkels und bestand aus einem Esstisch, drei Stühlen und einem Holzofen, der die ganze Wohnung wärmte. Das Klosett und die Badewanne, letztere umhüllt von einem abgenutzten Plastikvorhang und hier und dort durchzogen von einem Schimmelfaden, wurden im Treppenhaus gemeinschaftlich genutzt. Was mich jedoch am meisten überraschte, war das Doppelbett, in dem mein neuer Freund schlief: ein schweres, massives Holzgestell, das von Würmern so stark zerfressen war, dass es wie ein Sarg aussah. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass ein Junge in meinem Alter ganz allein in einem so großen Bett schlafen durfte. Die Wolldecke war voller Katzenhaare, und von Zeit zu Zeit schien es, als würden ein paar Flöhe darauf herumhüpfen. Dennoch machten wir es uns dort im Schneidersitz bequem und spielten.Dann kehrte ich nach Hause zurück. Meine Mutter nahm eine große Bürste und schrubbte mich von Kopf bis Fuß noch an der Tür, während sie vor sich hin grummelte. Obwohl sie ihr Bestes gab, ihre widersprüchlichen Gefühle zwischen Mitleid und Abscheu zu verbergen, hatte ich verstanden.

[…]

Aber so wie man es sich nicht aussuchen kann, in welche Familie man geboren wird oder welcher Uterus einen auf die Welt bringt, so kann man sich auch nicht die aufrichtigen, aber nicht weniger komplizierten Kinderfreundschaften aussuchen. Nachdem wir endlose Stunden in unserem Viertel gekämpft, gerungen, gespielt hatten und von einer Pfütze zur nächsten gehüpft waren, beendeten wir im Juni 1985 die Grundschule. Als letzte Hausaufgabe, die unsere Lehrerin, Signora Motka, den verschiedenen Gruppen stellte, sollten wir ein urbanes Entwicklungsprojekt für unsere Stadt entwerfen. Da wir durch den Stempel, den man unserer Wohngegend aufgedrückt hatte, immer noch ausgegrenzt wurden – um ein oberflächliches, aber schädliches Vorurteil der schlechten öffentlichen Meinung wiederzugeben – blieben nur wir drei übrig, um die letzte Gruppe zu bilden. Sowohl Tullio als auch ich wussten, dass Christians Zeugnisse schlecht waren und wir das irgendwie ausbügeln mussten. Meine Mutter hatte mehrmals anstelle seiner Großmutter mit Signora Motka geredet, denn die Beine und Füße der armen alten Frau waren so geschwollen, dass sie nicht einmal mehr in ihre Schuhe passten. An einem Juninachmittag, als die Hitze der Sonne die Feuchtigkeit in den Gassen verdampfte und den unverkennbaren Geruch von Schimmel freisetzte, ging ich zu Christian. Die häusliche Situation war unverändert. Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob die Wolldecke, die Christian immer festhielt, jemals gewaschen worden war. Zu meiner großen Überraschung hörten wir, kurz nachdem ich angekommen war, wie sich die Tür knarrend öffnete. Es war meine Mutter. Sie bat uns, im Zimmer zu bleiben, weil sie mit Signora Elda sprechen müsse. Ich erinnere mich noch gut an das Bild der alten Frau, wie sie sich mit den Ellbogen auf den Tisch gestützt mit einem schmuddeligen Taschentuch die Augen trocknete, während meine Mutter mit ihr sprach und an ihrer Zigarette zog. Das vertrauliche Gespräch bestand aus einem ausführlichen Bericht über die Unterredung mit Signora Motka, die nicht sicher war, ob sie Christian versetzen sollte oder nicht. Was sollte ich tun? Langsam schloss ich die Tür, ohne ein Wort zu sagen, und wir setzten uns auf das Bett. Ich bemerkte, dass der kleine Finger der einen Hand meines Freundes zitterte.„Ich will nicht sitzen bleiben“, sagte Christian.


Steckbrief und Übersetzung von Marisa Otto im Mentorat mit der Übersetzerin Dr. Ulrike Schimming

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Das Projekt


Bildquelle:

Massimiliano Alberti – https://www.triesteallnews.it/2018/01/massimiliano-alberti-romanzo-linvitato/

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