Werk – Chiullis neuester Roman Ho amato anche la terra ist ein Werk über Reue, Geheimnisse, die das Herz verzehren, über Entfernungen und tiefe Abgründe, aber auch über Wiedergeburt und Selbstbestimmung. Es ist die Geschichte von Livia und ihrer schmerzhaften Beziehung zum eigenen Körper, der tiefe Narben trägt. In ihrer Jugendzeit war Livia magersüchtig, um so den Ansprüchen der Gesellschaft gerecht zu werden, empfand jedoch nichts als innere Leere. Als sie nach einer unerfüllten Ehe von ihrem Mann verlassen wird, sucht sie den Trost im Essen. Ihr Körper wird eine Last, die sie mit sich herumtragen muss, aber auch ein Schutzschild, das sie vor der Außenwelt und dem Schmerz bewahrt, den sie im Laufe der Zeit aufgesogen hat. Mit ihrer sehr rohen, unverblümten, zum Teil auch unbarmherzigen Sprache schafft es Chiulli, die Leser:innen emotional zu treffen und mitzureißen. Die simplen Sätze sind sowohl ergreifend als auch und intensiv und lassen den Leser trotz der Härte der Beschreibungen – oder gerade deshalb – mit dem Protagonisten, der nunmehr Livias Körper ist, mitfühlen. Mit ihrer treffenden Ehrlichkeit verletzt und tröstet sie und gibt allen Körpern verschiedenster Maße eine Stimme und das Recht, gehört zu werden. Thematische Ähnlichkeiten finden sich auch in ihren anderen Romanen wieder, in denen die Autorin Schmerz, Scham und Emotionen verarbeitet. VITA – Maura Chiulli wurde 1981 in Pescara geboren und zog bereits mit 18 Jahren nach Rom, wo sie, während sie schon an ihrem ersten Roman arbeitete, ein Studium der Betriebswirtschaftslehre begann. Bislang veröffentlichte Chiulli vier Romane und zwei Essays und leitet an der „Scuola Macondo“ in Pescara Workshops zum autobiografischen Schreiben. Sich selbst bezeichnet sie als „Schriftstellerin und Feuerschluckerin“ und das Feuer wird sowohl zum Symbol des Grenzüberschreitens und Neuanfangs in ihrer Literatur als auch zum Hobby, mit dem sie auf der Straße performt. Sie engagiert sich außerdem für die LGBTQ-Community im Kampf gegen Vorurteile. | Werk – Es wäre lohnenswert, dieses Werk ins Deutsche zu übersetzen, da Chiullis einzigartiges Schreibtalent und ihre Methode der Selbstreflexion und Verarbeitung dem deutschsprachigen Publikum nicht vorenthalten werden sollte. Wie ihre Agentin Melissa Panarello beschreibt, werden Chiullis „Worte zu einem Körper und statt zu lesen, hat der Leser das Gefühl, sie zu berühren. Ein verstörendes, hypnotisches Schreiben, unwiderstehlich wie das Feuer.“ |
Leseprobe – Erstellt und übersetzt von Marisa Otto im Mentorat mit der Übersetzerin Dr. Ulrike Schimming
Deutsche Übersetzung
I
Mein Körper ist über vierzig Jahre alt. Genauer gesagt nutze ich ihn seit mehr als vierzig Jahren. Wäre er ein Auto, hätte er einen Wert wie ein Oldtimer, man würde ihn auf Autotreffen ausstellen und wäre stolz. Schimmernde Felgen und eine perfekte Karosserie. Aber die Substanz, aus der ich gemacht bin, das Fleisch, gewährt keinen Nachlass, lockt keine Bewunderer an. Erbarmungslos altert es und ist wertlos, wenn es von einem gefräßigen und rücksichtslosen Gast misshandelt wird. Einem Monster wie mir.Mir ist, als würde ich fallen und eine längst verdrängte Erinnerung steigt in mir auf. Eine Nacht vor mindestens fünfundzwanzig Jahren, der Duft der Vergangenheit. Ich denke an Staub, der, wenn man ihn wegwischt, eine Spur hinterlässt, doch solange man ihn nicht anrührt, umhüllt und trennt. Er schafft eine neue Distanz, ein Leerzeichen zwischen den weltlichen Dingen und dem Himmel. Ich denke an mein Ich von damals, den zarten Körper, den ich bewohnte, die abgekauten Fingernägel, die Angst und diesen inneren Drang, so stark wie die Schwerkraft und doch völlig losgelöst. Ich treibe durch die Welt wie ein schwarzer Schwan, und diese Nacht riecht nach vergilbten Büchern; ein beißender Geruch liegt in der Luft, feucht, von alten Seiten.
[…]
Bevor ich das Schlafmittel nehme und in eine tiefe Trance versinke, in der ich oft das Leben mit dem Tod tausche und mich endlich ausruhe, will ich nach draußen auf die Straße. Hier drinnen ersticke ich. Vier Stockwerke zu Fuß mit mindestens einhundertzwanzig Kilogramm auf den Rippen, die mir das Atmen schwer machen. Ich will sie mir anschauen, ich möchte dieser Straße, die mich ausspuckt, die mich nicht will, in die Augen sehen. Die Via delle Palme ist schwarz, die Straßenlaternen sind durchgebrannt. Ich mag die Dunkelheit, zumindest sieht man so nicht, was noch übrig geblieben ist. Ich setze mich auf die breiten Stufen vor dem zwielichtigen Wettlokal der AS-Rom Fans. Die Stadt ist still und Centocelle ist ein Grab. Wenn ich aus dem Büro nach Hause komme, sehe ich seit Jahren dieselben gelangweilten Gesichter der Jugendlichen mit den Jeans, die am Knöchel von Sicherheitsnadeln zusammengehalten werden, mit neonleuchtenden Nikes an den Füßen und ausrasierten Nacken und Schläfen. Wenn ich an ihnen vorbeigehe, blicke ich nach unten und höre sie tuscheln. Bestimmt machen sie sich über meinen massigen Körper lustig. Ich hasse sie. Jeden Nachmittag die gleiche Demütigung. Ich will auf die andere Straßenseite wechseln, aber dort liegen alte Matratzen und unzählige Müllsäcke neben den übervollen Containern. Jetzt möchte ich mich setzen und das anschauen, was sie sehen. Um die Ecke haben sie zweimal eine Buchhandlung in Brand gesteckt. Hier fackelt man nicht lange und von den Friedensfahnen, die vor zehn Jahren noch aus allen Fenstern hingen, ist heute nichts mehr zu sehen. Dieser Ort ist wie ich: starr, hart und stinkend. Ohne Ecken, ohne Rundungen. Alles ist draußen, die Welt quillt über, brodelt und schwappt aus Centocelle heraus, wie mein Fleisch. Die Straße ist ein Mund, der nur noch Galle spuckt.
Steckbrief und Übersetzung von Marisa Otto im Mentorat mit der Übersetzerin Dr. Ulrike Schimming
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Bildquelle:
Maura Chiulli – https://www.beingaware.it/maura-chiulli-presenta-nel-nostro-fuoco-libreria-de-luca/
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