Werk – Das Buch besteht aus den Tagebucheinträgen von vier Jugendlichen zwischen den 70ern bis heute: M., Bernardo, Carla und Anabela. Abwechselnd erfährt der/die Leser/in über die Herausforderungen der Hauptfiguren, über ihre Träume, Wünsche, Enttäuschungen. Auch wenn sie alle zu unterschiedlichen Zeiten leben, erfahren alle diese emotionale Achterbahn, das Erwachsenwerden, und müssen mit ihr zurechtkommen. Durch das Tagebuchformat erlebt der/die Leser/in eine sehr innige Erfahrung. Man lernt die tiefsten Geheimnisse der Protagonist/innen kennen, mit all ihren Makeln und Widersprüchen. Das Buch basiert auf dem auch von der Autorin und dem Autor entwickelten und mehrfach
inszenierten Musical Montanha-Russa.

Vita – Inês Barahona studierte Philosophie an der Universität Lissabon. Miguel Fragata studierte Theaterwissenschaft an der ESTC und der ESMAE in Lissabon. Zusammen gründeten sie 2014 die Theatergruppe Formiga Atómica, für die beide die Texte und deren Inszenierungen entwickeln. In ihren Stücken wird oft viel über wichtige aktuelle Themen diskutiert, und zwar mit der Absicht, dass sie allen zugänglich sind.
Werk – Dies ist nicht nur eine Coming-of- Age-Geschichte. Es ist vor allem ein Beweis dafür, dass bestimmte Herausforderungen beim Erwachsenwerden zeitlos und universell sind. Mit viel
Gefühl und Humor beschreibt das Buch die Antwort von vier sehr unterschiedlichen Figuren
auf die Frage: Wo stehe ich überhaupt in der Welt?

Leseprobe – Erstellt und übersetzt von Winston Martins Junior im Mentorat mit der Übersetzerin Lea Hübner

Deutsche Übersetzung


Anabela

5. Juli 1973

Liebes Tagebuch,

diese Ferien sind mega langweilig. Es ist überhaupt nichts los. Ich hab seit sechs Tagen Ferien und kann es in diesem Haus nicht mehr aushalten.

Mutti versteht mich nicht, sie versteht mich einfach nicht. Sie versteht nicht, dass ich gerade mal sechzehn Jahre alt bin. Es stimmt, sie wurde vor mir geboren, aber das, was sie erlebt hat, werde ich selber nicht erleben! Die Zeiten haben sich geändert! Es ist das Jahr 1973! Die Dinge haben sich weiterentwickelt, und sie hat keine Ahnung, wie es ist, im Jahr 1973 sechzehn Jahre alt zu sein! Sie gehört einer anderen Zeit an! Aber das versteht sie nicht.

Wann wird wohl dieser Sommer zu Ende sein?

Carla

5. August 1989

Liebes Tagebuch,

ich glaube, so werden wohl alle Tagebücher anfangen…

Ich sah dich im Schaufenster des Schreibwarengeschäfts und konnte nicht anders. Außerdem riechst du gut!

Ich werde tun, was man mit einem Tagebuch eben so macht: Ich schreibe und du hörst zu.

Ich bin dreizehn Jahre alt und habe eine normale Familie. Alles läuft gut. Außer bei mir und meiner Mutter, wir streiten uns über alles und jedes. Und bei mir und meinem Vater, wir können einander nicht ausstehen. Ich hab keine Ahnung, was meine Mutter an meinem Vater fand. Und ich verstehe auch nicht, was mein Vater an meiner Mutter fand…

Ich will nichts mehr schreiben. Meine letzten Tage waren öde.

Das ist für heute alles.

Anabela

15. Juli 1973

Liebes Tagebuch,

ich habe in letzter Zeit nichts geschrieben, weil absolut nichts los ist. Die pure Leere. Wie es wohl morgen wird? Hoffentlich besser!

M.

13. August 2000

Ich habe beschlossen, dieses Tagebuch, diesen Brief anzufangen, um meiner Geschichte eine Stimme zu verleihen, so wie es auch mein Uropa getan hat.

Er hat die Familientradition begonnen.

Meine Familie war immer mit den Volksmessen verbunden – mit den Vergnügungen, den Illusionen. Mein Uropa war der erste.

Er war Deutscher. Zirkuskünstler. Ein großer Illusionist. Er war sehr gut darin, von seinem Leben zu erzählen, als wäre es ein Märchen.

Beim Erzählen begann er immer im Alter von 8 Jahren, da war er schon Löwenbändiger. Danach ging er, von einer Diebesbande entführt, nach Afrika, wo er einen Pygmäenstamm anführte und heimlich die Tochter des Kaisers von Äthiopien heiratete.

Es klingt unmöglich, aber es heißt, dass das alles wirklich so geschehen ist.

Die krasseste Episode kam immer erst am Ende: Mein Uropa wird zum König von Albanien gekrönt. Das ist heute, am 13. August 1913, genau 87 Jahre her.

Er erzählte, dass er in der Zeitung eine ungewöhnliche Anzeige gesehen hatte: Albanien (das Land) war auf der Suche nach einem verlorenen Prinzen, der die Regierung übernehmen sollte. Und dieser verlorene Prinz sah meinem Uropa überraschend ähnlich. Gut zu erkennen auf dem Foto in der Anzeige! Deswegen beschloss er, von seinem Freund, dem Schwertschlucker, begleitet, nach Albanien zu reisen, und den Posten zu übernehmen.

Also herrschte er dort. Er erkundete den Palast, gab einen großen Teil des Kronschatzes aus und wagte sogar, Serbien den Krieg zu erklären, nur um zu sehen, wie das war. Nach fünf Tagen beschloss er, dass er genug gehabt hatte. Er ging fort.

Zurück in Deutschland verlangte er immer, „ehemaliger König von Albanien“ genannt zu werden.

Als er starb, stellte sich heraus, dass er diesen Titel sogar in seinem Ausweis stehen hatte. So steht es auch auf seinem Grab. Es gibt heute keinen einzigen Deutschen, der diese Geschichte nicht glaubt, mit solcher Überzeugungskraft hat mein Uropa sie erzählt.

Ich schreibe dieses Tagebuch, diesen Brief, damit alle meine Geschichte glauben.


Steckbrief und Übersetzung von Winston Martins Junior im Mentorat mit der Übersetzerin Lea Hübner

Beiträge zur portugiesischprachigen Literatur

Beiträge zu anderen romanischen Sprachen

Das Projekt


Bildquelle

Inês Barahona; Miguel Fragata – https://visao.pt/visaose7e/sair/2016-11-22-Do-Bosque-Para-o-Mundo-Uma-longa-viagem/

First published in Portugal by Orfeu Negro  

© 2019 Orfeu Negro  

Text © 2019 Inês Barahona and Miguel Fragata 

Illustrations © 2019 Mariana Malhão 

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