Werk – „Postales del Este“ erzählt die gleichermaßen tragische und rührende Geschichte der französischen Jüdin Ella, die in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert wird. Dort wird sie dank ihrer perfekten Handschrift als Kopistin im Frauenorchester eingestellt. Außerdem fängt sie an im Kanadablock zu arbeiten und muss die Kleidung und Habseligkeiten der Deportierten durchsuchen. So entdeckt sie zahlreiche Postkarten und Fotos der Insassen und beschließt sie heimlich für die Nachwelt aufzubewahren. 40 Jahre später bekommt ihre Tochter Bella eine Schachtel voller Postkarten und tritt somit die Reise in die Vergangenheit ihrer Mutter und all jener an, die dem schrecklichen Tun des Nazideutschlands zum Opfer gefallen sind. Die von wahren Begebenheiten inspirierte Geschichte, voller Hoffnung und Erinnerung, erschien zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz-Birkenau.  

Vita – Reyes Monforte ist eine 1978 geborene Romanautorin und Journalistin. Die als Radio- und später Fernsehmoderatorin bekanntgewordene Madrilenin veröffentlichte 2007 ihren Debutroman „Un burca por amor“, der zum Bestseller mit über einer Million verkauften Exemplaren und 52 Auflagen wurde. Viele ihrer Werke erlangten internationale Bekanntheit, wurden in mehrere Sprachen übersetzt und zwei sogar verfilmt. Ihren Erfolg verdankt die Autorin nicht zuletzt den aufwendigen Recherchearbeiten, die sie an den Tag legt, bevor sie einen neuen Geschichtsroman verfasst, der die Leser später mit seiner hohen Authentizität und Liebe zum Detail überzeugt.
Werk – Es würde sich lohnen, dieses Buch zu übersetzen, da es eine rührende Geschichte aus der Perspektive einer Frau erzählt und auf realen Ereignissen basiert. Des Weiteren ist es dem Genre der Belletristik zuzuschreiben, welches sich der größten Beleibtheit unter deutschen Lesern, ganz besonders historische Romane unter den Frauen, erfreut. Zudem ist die Thematik des zweiten Weltkrieges immer wieder aktuell und wichtig für die Erinnerungskultur.  

Leseprobe – Erstellt und übersetzt von Daria Patrycja Barczyk im Mentorat mit der Übersetzerin Lea Hübner

Deutsche Übersetzung


Die Häftlinge mussten bei der Durchführung solcher Geschäfte besonders vorsichtig vorgehen. Wenn sie beim Stehlen ertappt wurden, würde man das Strafmaß je nach gestohlenem Gegenstand bemessen. Die Strafe reichte von den gefürchteten fünf-und-zwanzig Peitschenhieben bis hin zur Abschiebung in den Block 25 oder direkt in die Gaskammer. Der Preis war ziemlich hoch, aber es war das Risiko wert. „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.“, wiederholte Ada immer wieder und dieses bekannte Sprichwort wurde zum Kampfschrei des Kanadablocks.

Ellas erste Arbeit in Kanada bestand darin, das Innenfutter von Mänteln, Blusen, Jacken und Hosen abzutrennen. Das Gleiche mit den Schuhsohlen. Jedes Kleidungsstück wurde gründlich geprüft, vor allem, wenn es sich um Damenunterwäsche handelte. Jeder Saum konnte ein gutes Versteck sein. Dort versteckten die deportierten Juden normalerweise ihre wertvollsten Besitztümer, seien es Brillanten, Rubine, Diamanten, Edelsteine, Schmuck, Perlenketten oder jeder beliebiger Gegenstand aus Gold oder Geldscheine aus allen Ländern der Welt. Das war ohne Zweifel der meistgewünschte Hauptgewinn der SS, eine Quelle des Reichtums, die sie sich nie hätten erträumen können; als sie sie entdeckten, kommandierten sie ein spezielles Häftlingskommando zur pausenlosen Arbeit ab. Die Gefangenen hatten den Befehl, jede Wertsache, die sie fanden in eine Holzkiste auf einem großen Tisch einzuwerfen, der einen beträchtlichen Teil der Baracke einnahm. Die Aufgabe von Ella beinhaltete das Verfassen eines Berichts, in dem sie alles, was in Kanada ankam, aufführte, um es später im Verwaltungsbüro des Lagers einzureichen. Nichtsdestotrotz bemerkte sie schon bald kostbare Sachen in ihren Händen, die ohne Wert für die Habgier der Uniformierten waren. An einem Morgen, während sie den marineblauen Saum eines Kindermantels mit grünem Kragen und vergoldeten Knöpfen auftrennte, stieß sie auf einen kleinen gefalteten Zettel. Sie erstarrte und betrachtete ihn, ohne zu wissen, wie sie reagieren sollte, ihr Atem beschleunigte. Ihr war es unangenehm Kinderkleidung zu sortieren und zu registrieren, vor allem die von Babys, da es ihr grausam erschien an das Schicksal zu denken, welches ihnen das Leben noch bescheren würde. Man sah kaum Minderjährige in dem Lager, und das konnte nur eine Sache bedeuten. Einen Moment lang hob sie ihren Blick nicht und bewegte keinen Millimeter ihren Kopf. Kein Muskel ihres Körpers regte sich. Sie musste so normal wie möglich ihrer Beschäftigung nachgehen. Sie stellte sicher, dass Frau Schmidt, die Kapo-Aufseherin von Kanada, sie in diesem Augenblick nicht überwachte: sie war ein grober Schreihals, der imstande war, jeden unter ihrem Befehl zu verraten, wenn dies die Zustimmung der SS fand, und sie hatte etwas Gespenstisches an sich, da sie immer wieder verschwand und dann unvermittelt hinter dem Rücken der Häftlinge wieder auftauchte. Ebenso wenig kümmerten sich keine Insassinnen um Ella, sie bevorzugten es, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Sie guckte wieder das Stück Papier an. Sie konnte es nicht auf dem Tisch liegen lassen und auch nicht ohne Weiteres beseitigen. Sie dachte daran, es sich in den Mund zu stecken, aber sie hatte noch den ganzen Arbeitstag vor sich und es war sehr wahrscheinlich, dass es sich auflöste und ihr nichts anderes übrigblieb, als es runterzuschlucken. Sie wollte wissen, was auf diesem Zettel stand. Wenn einer sich schon die Mühe machte, eine Notiz zu schreiben und sie im Saum eines Kindermantels versteckte, musste das, was er zu sagen hatte, wichtig sein. Sie musste nicht lange nachdenken, schon packte sie das Papierstück mit einer Geschicklichkeit, die sie selbst überraschte, und versteckte es in ihrem BH. Sie pries es, dem Kanadablock anzugehören und das meistgesuchte Kleidungsstück der Frauen in Auschwitz-Birkenau besitzen zu können. Der Büstenhalter war nicht nur ein Luxusprodukt im Lager, sondern bedeutete auch die Fahrkarte zum Überleben: während ihrer grausamen Selektionen bewerteten Maria Mandel und Doktor Mengele die Schlaffheit der Brüste der Gefangenen, um zu entscheiden, ob sie sie gleich in die Gaskammer schickten oder ihnen noch die Möglichkeit gaben zu arbeiten und am Leben zu bleiben.

Ein fieberhafter Schlag durchfuhr sie, der wie ein Stromstoß ihren Rücken hinaufstieg und sich in ihren Wangen festsetzte. Sie spürte, wie sie brannten. So leicht erreichte man diese unnatürliche Röte, die die Gefangenen mühevoll vor jeder Selektion zu erreichen versuchten: indem sie sich in die Wangen kniffen oder sich das Blut in die Fingerkuppen und Lippen fließen ließen, um es dann über die Backenknochen zu verteilen, damit sie gesünder erschienen. Sie würde es machen. Sie musste nur die Nacht abwarten, um zu sehen, was auf diesem Zettel geschrieben stand.

Der Tag zog sich ins Unendliche. Als es endlich Nacht wurde, nutzte Ella die Stille, die in ihrer Baracke herrschte, weil alle bereits schliefen, um die Notiz aus ihrem Versteck zu holen. Sie setzte sich auf ihre Pritsche, während sie vorsichtig das Papierstück auffaltete. Sie freute sich darüber, dass es eine Vollmondnacht war und dass es nicht stockdunkel war, obwohl sie sich trotzdem anstrengen musste, bis sie einzelne Wörter unterschieden konnte.

Mein Name ist Jakob und meine Eltern heißen Helene und David.

So lautete die im Saum versteckte Nachricht. Sie war in der Ich-Form geschrieben, aber die Handschrift war nicht die eines Kindes. Ella nahm an, dass es die Mutter war, die entschied, diesen Überlebensschrei zu verfassen, einen Notruf zu senden, der sicherlich zu spät kam. Ihre Reaktion verriet die Angst, die sie vor ihrem Verschwinden verspürte; die Angst davor, dass ihr Kleiner den Händen seiner Eltern entgleiten würde. Aber sie verspürte auch die Hoffnung, dass er wiedergefunden wurde. Indem sie dieses Schriftstück hinterließ, vertraute sie darauf, dass jemand ihm helfen, jemand reagieren, jemand etwas für ihn tun würde.

Dieser Gedanke rührte Ella zutiefst. In den nachfolgenden Tagen fand sie sich mit mehr Energie als gewöhnlich im Kanadablock ein, gierig danach, in Säumen, im Futter, unter den Schuhsohlen, in den Hüten, in den geheimen Taschen, die in die Innenseite der Kleidungsstücke genäht wurden, in Kofferböden, in Taschenrückseiten, in BH-Trägern, zwischen der Spitze von Damenunterwäsche weiter zu suchen. Sie war davon überzeugt, dass es mehr von solchen Nachrichten wie der von Jakob gab, mehr Papierstücke, mehr eingenähte, festgesteckte, bestickte Worte, versteckt zwischen den Kleidungsfetzen. Es war eine neue Art der Kommunikation, eine Hoffnung für das verweigerte Gespräch; dass im Lager nicht gesprochen werden durfte, hieß nicht, dass Sachen nicht gesagt werden konnten. Es geschah dort, zwischen den Haufen von Habseligkeiten, die sich in Kanada stapelten, dass handschriftliche Briefe, Fotografien, Familienporträts, mit Vornamen, Nachnamen und Adressen bestickte Etiketten anfingen vor ihren Augen zu erscheinen. Auf Buchumschlägen geschriebene Nachrichten, Kritzeleien auf den Seiten von Erstausgaben, auf Doktorarbeiten, auf Partituren, Tagebüchern, Reisepässen, Zeichnungen auf offiziellen Dokumenten, auf Besitzurkunden, auf akademischen Urkunden, gefälschte Geburtsurkunden, die für die sie besitzenden Juden nicht den erhofften Passierschein bedeutet hatten. Jedes Stück Papier war eine Möglichkeit den Tod zu überleben. Die Realität bestätigte sie: Am Anfang war das Wort. Ella hatte den Befehl, jedes Papier, das in ihren Händen landete, zu zerstören, es in einen Container aus Eisen in einer Ecke des riesigen Lagers zu werfen, wo die Flammen jede Spur der Erinnerung und des vergangenen Lebens verschlingen würden.

– Nichts von all dem hat einen Nutzen oder einen Wert. Sie werden es nicht vermissen, dort wohin sie gehen – sagte der Befehlshaber der SS mit einem düsteren Lächeln zu Frau Schmidt, während er zu den Kaminen des Krematoriums zeigte. – Und uns geht das nichts an. Es ist nur Müll, der Platz wegnimmt, den wir nicht haben – urteilte er, während er einige Fotografien verbrannte, indem er eine Kerzenflamme an die Rückseite der Porträts hielt, die sich nach und nach runzelten, verzehrt wurden, sich schwarz färbten und in einer grauen Wolke aus Flugasche unwiederbringlich verschwanden.

Ella erfüllte dieser Anblick mit Entsetzten darüber, was das bedeutete. Sie gaben sich nicht damit zufrieden, das Leben der Gefangenen einmal zu verbrennen. Sie mussten es ein zweites Mal tun.

Der eigentliche Auslöser für ihren persönlichen Widerstand in Auschwitz- Birkenau ereignete sich aber zwei Tage später, an dem Morgen, an dem sie Ella losschickten, die Kleidung der Kinder einzusammeln, die in einer der Lagerbaracken eingesperrt gewesen waren. Sie waren mit einem nächtlichen Sondertransport zwei Wochen zuvor angekommen und, anstatt gleich in die Gaskammer geschickt zu werden, wurden sie am Leben gehalten, zweimal am Tag verpflegt und dazu verpflichtet eine Liste an Übungen durchzuführen und Doktor Mengele regelmäßig einen Besuch abzustatten. Ihre Köpfe wurden nicht geschoren. Ihre Arme wurden nicht tätowiert. Man gab ihnen keine Lageruniformen. Sie wurden weder in den Quarantäneblock verlegt, noch wurden sie zu den Schnelldesinfektionsduschen gebracht, wie es für gewöhnlich bei Neuankömmlingen in Auschwitz-Birkenau gemacht wurde. Es geschah nichts von dem, was sie normalerweise taten. Bis zu jener Nacht, in der Kinder verschwanden. Am nächsten Morgen waren sie einfach nicht mehr da. Niemand hörte etwas. Niemand sah etwas. Aber am nächsten Morgen war in der Baracke von den Kindern keine Spur. Das Einzige, was übrigblieb, war ihre Kleidung, die in Kanada bei der Registrierung enden würde.

Beim Eintreten in diese Gespensterbaracke kondensierte Ellas Atem, so wie auch der der Minderjährigen, die nur Stunden zuvor diesen Raum bewohnt hatten. Das, was sie auf einer der Wände sah, war schwer zu begreifen. Sie musste näher herantreten, um den Anflug der Ungläubigkeit zu vertreiben, der als Schutz vor dem Schrecken diente. Die war übrigens etwas ziemlich Verbreitetes im Lager: nicht an die Gräueltaten zu glauben, die dort begangen wurden. Das war die einzige Möglichkeit sich vor der Angst und der Brutalität zu schützen. Genauso wie es auch auf der anderen Seite des Drahtzaunes des Vernichtungslagers passierte, wo man weder sehen noch glauben wollte, was da drinnen geschah, um sich nicht dazu verpflichtet zu fühlen es zu verarbeiten oder zu regeln.

Mit einem zögerlichen Schritt näherte Ella sich der Wand.

Auf ihr hatten die Kinder mit ihrem eigenen Blut ihre Namen geschrieben. Bei ihren Vor- und Nachnamen standen da noch andere, sicherlich die ihrer Eltern. Sie hatten auch kurze Botschaften verfasst, in den meisten davon verabschiedeten sich oder bekannten die Liebe zu ihren Eltern, Geschwistern, Großeltern oder Freunden. Die Schrift war unregelmäßig, wie auch bei den zittrigen Unterschriften ihrer Eltern, die in einigen Dokumenten auftauchten, die Ella bei der Lagerverwaltung gesehen hatte. Sie wussten, dass man sie beseitigen würde. Die Erkenntnis hatte sie in den letzten 15 Tagen, in denen sie in der Baracke eingesperrt waren, überkommen. Auf die eine oder andere Art, erahnten sie ihr Schicksal. Sie wollten nicht sterben, aber da sie wussten, dass sie es tun würden, wollten sie sicherstellen, dass jemand davon erfuhr. Der Name unterschied sie von den anderen, er machte sie einzigartig und unverwechselbar. Es war eine spontane Reaktion, kein Akt des Hochmuts, für den es an diesem Ort praktisch keinen Platz gab. Es war etwas viel Einfacheres: es war der Wunsch danach, den Tod zu überleben, die menschliche Reaktion, gegen das Vergessen zu rebellieren. Man konnte sie nicht vergessen, damit sie eines Tages verlangen konnten, dass jemand ihre Existenz bestätigte. Wenn sie ihren Namen aufschrieben, würde er das sein, was sie waren. Es bedeutete, dass sie eines Tages existiert hatten und sich jemand an sie erinnern würde. Vielleicht hatten sie sich das bei ihren Eltern abgeguckt oder vielleicht sprach das Ende ihrer Unschuld diese Worte aus. Eine aufrichtige, ehrliche und natürliche Reaktion. Dem Tod mit der eigenen Identität in die Augen schauen. Ein Akt der Bestätigung angesichts so großer Barbarei, der letzte Freiheitsschrei einiger Kindern, denen man nicht die Zeit gewährte, zu lernen, wie man sich auflehnte.

Ella streckte ihren Arm aus, um diese Namen anzufassen, aber sie blieb mitten in ihrer Bewegung stehen, als ob ihr jemand auf die Finger gehauen hätte. Sie dachte, dass wenn sie über diese mit dem Blut der Kinder gezeichneten Wörter streichen würde, sie das Andenken an diejenigen, die sie geschrieben hatten, entweihen würde. Sie empfand das Verlangen, sich diese Namen ins Gedächtnis einzubrennen. Hoffentlich würde sie auch ein Stück Papier haben – eine von diesen Postkarten, die die SS an die Häftlinge ausgab, wenn sie sie dazu drängte ihren Angehörigen zu schreiben – ein Medium, auf dem sie sich verewigen konnte. So wie die Kinder es auf den Wänden getan hatten.


Steckbrief und Übersetzung von Daria Patrycja Barczyk im Mentorat mit der Übersetzerin Lea Hübner

Beiträge zur spanischsprachigen Literatur

Beiträge zu anderen romanischen Sprachen

Das Projekt


Bildquelle

Reyes Monforte – https://www.cartv.es/aragoncultura/nuestra-cultura/reyes-monforte-los-nazis-odiaban-la-palabra-escrita-porque-eran-conscientes-de-su-poder-curativo-4141

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