Werk – Als 2012 die Leiche eines Mannes in seiner eigenen Wohnung in Madrid gefunden wird, beginnt eine düstere Kriminalgeschichte, die zwischen den 90er Jahren und 2012 in Spanien spielt. Es geht um die Geschichte der verschwiegenen Gesellschaft dieser Zeit, um Korruption, um Privilegien und Freundschaft. Metaphernreich Empathisch geschrieben spannend VITA – Carlos Fortea, 60 Jahre, Professor an den Universitäten Salamanca und Compultense de Madrid und arbeitet außerdem als Schriftsteller und Literaturübersetzer. | Werk Es ist nicht nur ein Krimi, sondern auch ein Gesellschaftsroman, der auch für die deutsche Leserschaft interessant wäre. Denn über Spanien als Urlaubsziel hinaus ist in Deutschland nicht viel bekannt. |
Leseprobe – Erstellt und übersetzt von Fiona Bönsch im Mentorat mit der Übersetzerin Lea Hübner
Deutsche Übersetzung
I
Madrid, 2012
Die menschliche Landschaft ist das, was bleibt, wenn das Wasser sich zurückgezogen hat. Steine, zerbrochene Muscheln, fädige Algen, zerknittert in den Sand gedrückt wie die Opfer von Pompeji, zerknitterte Opfer wie trockene Algen, feuchte Erde, nichts.
Ich beugte mich über die menschliche Landschaft, um sie zu betrachten. Die Leiche des hässlichen Mannes lag auf der Seite, mit einer langen Schusswunde auf der Stirn, die ihn nicht getötet hatte, und die rechte Hand umfasste das linke Handgelenk, der Beweis für den Schmerz im Herzen, der ihn wahrhaftig getötet hatte, ein Beweis, dass es hunderte von Arten gibt, eines plötzlichen Todes zu sterben, und dass ein Schreck eine davon war.
Läge es nicht in der Natur des Schreckens, man hätte mich nicht hierher gerufen. So untersuchte ich mit minuziöser Genauigkeit den langgezogenen Kratzer, der von einer Waffe mit kleinem Kaliber und kurzem Lauf stammte. Ich stellte die Szene in meinem Kopf nach: eine Waffe, die an eine Schläfe gehalten wird, ein Mann, der zittert, zwei Männer, die zittern, ein Zittern und ein Zittern, vereinigt in einem um wenige Millimeter verfehlten Schuss endend.
Und dennoch der Tod. Dennoch die Parze, die den Faden durchschneidet, den sie sich schon zu zertrennen entschlossen hatte, und die unerschütterlich ihr Recht fordert.
Ein Mörder, der kein Mörder ist. Wer kann schon behaupten, dass er einen Menschen durch einen Schreck getötet hat? Und dennoch ein Mörder. Ohne die Verursachung des Schrecks wäre niemand gestorben.
Oder eine Mörderin. Mir fällt auf, dass ich reflexartig eine machistische Perspektive eingenommen hatte. Ich assoziierte innerhalb einer Millisekunde das Zittern der Hand, die den Revolver gehalten hatte (warum ein Revolver? Vielleicht wegen des kurzen Laufs. Mit einem langen Lauf hätte man einen Schuss aus einer solch kurzen Distanz nicht verfehlt) mit diesem veralteten Bild von der weiblichen Empfindsamkeit, die Frauen zu schwachen Wesen macht, und sie zittern lässt. Ich löschte die Vorstellung, jedoch nicht die Warnung. Ich konnte mir diese machistische Sichtweise keine Sekunde länger erlauben und weiterhin nur Männer in Betracht ziehen. Auch Frauen können töten.
Der Forensiker tauchte hinter mir auf, er schaute mich an, ohne sich herunterzubeugen, so als würde er mich wortlos dazu auffordern, ihm Platz zu machen. Ich weigerte mich, ohne zu wissen, warum.
„Tod durch Schock,“ diagnostizierte ich.
„Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann stelle ich das fest“, war seine trockene Antwort.
Ich fügte mich und überließ ihm endlich das Feld: „Er gehört ganz Ihnen.“
Die Häuser der Leute sind die untere Schicht ihrer Epidermis, der Ort, an dem sie gleichsam zeigen und verstecken, die geschminkte Haut. Ich spazierte durch die Zimmer, die das Zuhause des Verstorbenen gewesen waren, und versuchte mir irgendwie ein Bild sowohl dessen zu machen, was unter der Schminke gewesen war, als auch von der Beschaffenheit seiner Schminke, von dem Eindruck, den er auf die Welt machen wollte.
Das Wohnzimmer war voll von Zahlmanien: sieben der Größe nach abgestufte Gläschen in einer Vitrine, ein Chanukkaleuchter mit neun Armen auf der Anrichte, eine Likörkaraffe mit fünf Gläsern drumherum, an der Wand drei symmetrisch aneinandergereihte Bilder. Eines von ihnen zeigte grüne Wiesen, das andere war eine Küste mit einem gestrandeten Boot im Vordergrund, im Hintergrund ein tosendes Meer, das dritte: das Porträt einer Frau. Ich ging auf das Porträt der Frau zu. Es war ein zeitgenössisches Bild von jemandem, der noch lebte. Die Porträtierte blickte den Betrachter schräg an, während sie ihre Hand auf der Schulter abstützte. Eine Frau mit kupferfarbenen Haaren, jung, hübsch, mit nicht sehr weißer Haut und eher unauffälligen Lippen. Oder zumindest hatte der Maler es so gesehen.
Es gab kein Schildchen, anhand dessen man sie hätte identifizieren können. Die Unterschrift des Malers war unleserlich. Ich zog mir die Latexhandschuhe an und nahm es herunter. Auf der Rückseite war ein von Hand geschriebenes Schild, die Buchstaben waren fahrig und ungleichmäßig: „Für Silvia.“ Ich notierte mir in meinem Kalender: Die Verwandten fragen, wer Silvia ist.
Ich hängte das Bild wieder zurück. Die Widmung wies auf jemanden hin, der in der Wohnung lebte. Man verschenkte kein Bild, um es dann selbst zu behalten.
„Lacalle!“, rief ich.
Der Gerufene unterbrach für einen Moment das Abnehmen der Fingerabdrücke.
„Ja?“
„Hast du schon die Daten des Verstorbenen?“
„Ja“.
Er zog einen PDA aus seiner Tasche und las: „Laut Personalausweis und den übrigen Informationen hieß der Verstorbene Arturo Cervera López, Journalist, 49, derzeit ohne
Beschäftigung, soweit bekannt.“ Er hielt einen Moment inne und schaute sich im Wohnzimmer um, als ob er die Zuverlässigkeit dieser Informationen infrage stellte, „hatte aber vorher zahlreiche Anstellungen in der öffentlichen Verwaltung.“ Er hob die Augenbrauen. „Geschieden, kinderlos, lebt allein, die Eltern sind verstorben, keine Geschwister…, ich bin mir nicht sicher, ob wir jemanden finden werden, den wir über seinen Tod informieren können.“ Der makabre Unterton des letzten Satzes flößte mir eine gewisse Melancholie ein. Zu sterben, ohne jemanden zu haben, dem es erzählt werden könnte, sollte keine Rolle spielen, doch wir Menschen sind so gestrickt, dass wir uns ergreifende Szenen ausmalen, wenn wir an die Hinterbliebenen denken, an das Gefühl, dass etwas von uns bleiben würde, wenn wir nicht mehr sind, selbst wenn es nur Tränen sind, und sei es nur für eine begrenzte Zeit.
Es hatte den Anschein, dass niemand bereit wäre, um Arturo Cervera zu weinen. Das war eine menschliche Tragödie, aber für uns war es vor allem ein steuerliches Problem: wir mussten nach möglichen Erben suchen, bevor wir den spanischen Staat zum Alleinerben der sieben Gläschen machten, des Chanukkaleuchters, der Likörkaraffe mit ihren fünf Gläsern, der drei Bilder und all dem Geld, um das dieser respektable arbeitslose Gentleman die Steuerzahler jahrelang betrogen haben mochte, oder auch nicht, was wir vielleicht bald anhand seiner Konten sehen konnten, sowie am Marktwert seiner großen Wohnung.
Zudem war es für mich ein technisches Problem: nicht nur konnte ich die Verwandten nicht fragen, wer Silvia war, es bedeutete auch, dass man zu keinem schnellen Ergebnis gelangen konnte. Silvia lebte nicht in der Wohnung, sie war mit dem Verstorbenen nicht verwandt, es sei denn weit entfernt. Plötzlich schien es umso wichtiger zu erfahren, wer sie war.
Dieser Tote gab mir seine Lebensgeschichte nicht preis und die musste ich kennen, um zu wissen, wo ich mit der Suche anfangen sollte. Ich drehte eine Runde durch die Küche. In den Schränken und im Kühlschrank gab es kaum etwas Essbares, aber vor allem gab es nichts für ein Frühstück.
„Ich gehe für einen Moment nach unten auf die Straße“, teilte ich mit.
„Ihr Raucher seid hoffnungslos“ antwortete mein Kollege. Der Forensiker bewegte sich kein Stück.
An der Ecke des Grundstücks gab es ein Café. Ich trat ein, stellte mich direkt an die Theke und bestellte einen Kaffee und ein Toast. Der Kellner begann die Butter mit schnellen, professionellen Bewegungen aufzutragen.
„Hat sich schon herumgesprochen, was hier oben passiert ist?“, fragte ich.
„Das mit dem Journalisten?“, er hatte sich für die Antwort nicht umgedreht. Das Toast benötigte scheinbar einen immensen Teil seiner Aufmerksamkeit. Es gibt Menschen, die sich nur auf ihre Arbeit konzentrieren. „Wie sollte man es nicht erfahren. Die Polizei hat ja ein sehr beeindruckendes Spektakel veranstaltet.“
„Kannten Sie ihn?“
Der Kellner hob mürrisch die Augenbrauen.
„Ob ich ihn kannte? Er hat hier fast jeden Morgen gefrühstückt.“
„Einer dieser einsamen Büroangestellten.“
„Das glaube ich nicht. Er hatte vielleicht nicht viele Freunde, aber in letzter Zeit habe ich ihn mit einer Frau gesehen, eine ziemlich heiße Braut.“
„Was Sie nicht sagen.“
„Wie gesagt, eine Dunkelhaarige mit hellen Augen und einer kleinen hochgebogenen Nase.“ Er machte eine Bewegung mit der rechten Hand, in der er noch immer das Buttermesser hielt.
„Und das war nicht das einzige hochstehende an ihr, wenn Sie verstehen.“ Ich bewegte verständig den Kopf.
„Aber sie war nicht seine Freundin, oder?“, bohrte ich nach.
„Pf.“
Ich hob die Augenbrauen, so als wären es zwei Fragezeichen.
„Hm?“, setzte ich nach.
„Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass er sie nicht nur angeguckt hat.“
„Manche haben Glück.“
„Das kann man wohl sagen. Gerade wo er so ein hässlicher Kerl war.“
Der Toast stand auf dem Tresen. Ich fing an es mit Marmelade zu bestreichen.
„Und sonst kam er nie mit jemand anderem her?“
Der Kellner schüttelte den Kopf.
„Nie.“
Steckbrief und Übersetzung von Fiona Bönsch im Mentorat mit der Übersetzerin Lea Hübner
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Bildquelle:
Carlos Fortea Gil – Vom Autor zur Verfügung gestellt.
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