Werk – Es wird die Geschichte einer jungen Schwarzen Spanierin erzählt, die zwischen zwei Welten aufwächst und sich zu keiner dazugehörig fühlt. Als Tochter einer weißen Mutter und eines Schwarzen Vaters, erfährt sie früh, wie es ist, nicht als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft angesehen zu werden, da sie sich von der breiten Masse abhebt. Auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt und ihrer eigenen Identität, begibt sie sich auf die Reise nach Guinea, dem Herkunftsland ihres Vaters. Doch auch dort findet sie keine Antworten auf die Fragen, die sie nicht loslassen. Thematisch setzt sich das Werk mit Rassismus, Familienbanden und der eigenen Identität dazwischen auseinander. Das Buch liest sich wie eine biographische Geschichte mit Anekdoten aus dem Leben der Autorin, wodurch sie sehr real werden. VITA – Lucía Asué Mbomio Rubio geb. 1982 in Alcorcón, Spanien ist eine spanische Journalistin und Autorin. 2013 wurde sie als eine der 30 wichtigsten afroeuropäischen Persönlichkeiten benannt. | Werk – Als Schwarze Person in Spanien aufgewachsen kann sie ihre eigenen und auch die Erfahrungen vieler anderer nicht weißer Menschen beschreiben und verarbeiten. Vieles ist dabei von Spanien direkt auf Deutschland übertragbar. Auch Deutsche halten sich für gar nicht rassistisch und erkennen so die Problematik des systemischen und internalisierten Rassismus nicht an. Deswegen lohnt es sich, der Autorin in so vielen Sprachen wie möglich eine Stimme zu geben. |
Leseprobe – Erstellt und übersetzt von Monika Kiermasch im Mentorat mit der Übersetzerin Lea Hübner
Deutsche Übersetzung
Ein notwendiges Übel
Sandra nimmt eine andere Position ein und rollt sich auf der Seite zwischen den Flanellbettlaken zusammen, als sie den Kopf herausstreckt und plötzlich einen Schauer spürt, der sie zusammenzucken lässt.
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In Spanien wurde sie häufiger nach ihrer Herkunft gefragt als nach ihrem Namen. So oft, dass sie als Kind sogar überlegte, ein Land zu erfinden, als Antwort an alle Neugierigen. Ihre bloße Existenz schien für Erstaunen zu sorgen. Ihr Haar, ihre Haut, ihre Gesichtszüge, sie war anders als die anderen Kinder um sie herum, und sie wurde ständig auf verschiedenste Weise darauf aufmerksam gemacht. Am krassesten war es, wenn sie ihr mit den Fingern in die Haare fassten und ohne ihre Erlaubnis darin rumfummelten. Das Schlimmste aber war, dass sie es so sehr gewohnt war, dass sie sich nicht einmal dagegen wehrte, sondern einfach nur still hielt und es mit einem Achselzucken akzeptierte, mit einer für ihr Alter ungewöhnlichen Resignation. Immer wenn sie es satt hatte, betatscht zu werden, ging sie einfach weiter, ohne ein Wort oder einen Blick zurück, während ihr Millionen von Fragen durch den Kopf schossen – Warum? Eigentlich taten die Kinder nichts anderes, als die Erwachsenen nachzumachen. In den 1980er Jahren zeigten Fremde auf der Straße mit dem Finger auf ihre Familie und tuschelten im Vorbeigehen. Für diese Leute ergab das, was sie sahen, ein typisches Bild: die Mutter – weiß, schlank, ein Hippie, mit hüftlangen Haaren; ein Vater – schwarz, attraktiv, im Anzug, mit gepflegtem Afro und Sonnenbrille; und zwei Mädchen, die die meisten Leute ebenfalls für Schwarz hielten, obwohl sie eine hellere Hautfarbe hatten. Ihre Familie ging einfach nur spazieren,
einkaufen oder in den Park wie alle anderen auch; sie brauchten überhaupt nichts Außergewöhnliches zu tun, allein bei ihrem Anblick drehten sich die Leute um, zogen die Vorhänge zurück, um sie unverhohlen zu beobachten, und ließen, während die Familie vorbeiging, einen Haufen Kommentare ab, um die sie niemand gebeten hatte:
Was muss das für ‘ne Schlampe sein, wenn die mit ‘nem Schwarzen zusammen ist.“
„Die hat wohl keinen anderen abgekriegt.“
„Bestimmt ist sie schwanger geworden und dann blieb ihr halt keine Wahl.“
Manche Äußerungen waren vermeintlich nett gemeint, doch genauso verletzend:„Sieh nur, so hübsche Mädchen, obwohl der Vater so schwarz ist“, sagten sie lachend.„Natürlich – die Mischung macht’s.“
„Wenn sie erwachsen sind, werden diese kleinen Mädchen uns keines Blickes mehr würdigen, Schönheiten, die sie sein werden.“
Ihre Mutter machte sich Sorgen, dass Sandra und ihre Schwester sich solche Kommentare zu Herzen nehmen könnten, aber da sie so etwas bereits von Kind an mitbekommen hatten, waren sie ziemlich immun gegen den Schmerz. Trotzdem wuchs in ihren kleinen Körpern die Wut und manchmal platzete sie ohne ersichtlichen Grund heraus. Manchmal überkam die beiden auch ein Gefühl von Scham, weil sie dachten, sie hätten vielleicht etwas falsch gemacht und man würde deswegen so über sie reden.
Als sie schon erwachsen waren, gestand Sara, die heller ist als Sandra, eines Tages beim Abendessen, dass sie als Kind lieber an der Hand ihrer Mutter ging, weil sie glaubte, dass man auf sie herab schauen würde wegen der dunklen Hautfarbe des Vaters. Bis ihr dann klar wurde, dass auch sie nicht wie die anderen war. Ein Kind analysiert oder begreift solche Dinge nicht – sie verstand sie durch der Spitznamen, die sie seit ihrer Einschulung immer wieder zu hören bekam:
„Mohrenkopf“, „Baltasar“, „Schokomilch“, „Nutella“ oder „Schornsteinfeger“. Diese Spitznamen gaben den Schwestern das Gefühl, anders zu sein.
Obwohl sie versuchten es sich schönzureden, weil ja alle in der Schule einen Spitznamen hatten. Es gibt jedoch Beleidigungen, die über bloße Worte hinausgehen, sie sind wie aus schweren, langen Stoffen hervorlugende Fransen, die irgendwo ganz woanders in Zeit und Raum beginnen. Ihr Ursprung lässt sich nicht ohne Weiteres finden und ihn zu suchen birgt Nebenwirkungen: Es bringt Erleichterung und Schmerz zugleich.
Sandra war zwei Jahre älter als ihre Schwester, und als sie in die fünfte Klasse kam, hatte sie das Gefühl, ihre Schwester beschützen und sie vor den Problemen, die sie selbst gehabt hatte, bewahren zu müssen. Schon sehr früh wurde ihr bewusst, dass das, was sie durchmachte, nicht normal war, und das fiel mit dem Zeitpunkt zusammen, an dem die Beleidigungen zu Schlägen wurden. Sie hasste es zu kämpfen. Um sich und ihre Schwester zu verteidigen, musste sie angreifen oder in ständiger Alarmbereitschaft sein. Es war seltsam, denn sie hatte ein freundliches und fürsorgliches Gemüt. Sie bekam gute Noten und half anderen unaufgefordert bei den Hausaufgaben. Sie tat alles, um geliebt und akzeptiert zu werden, so als hätte sie einen schweren Fehler begangen, den es wiedergutzumachen galt. Als müsste sie sich durch ihre Taten ständig entschuldigen. Sie war verantwortungsbewusst, für ihr Alter sehr redegewandt, hatte Sinn für Humor und konnte alle zum Lachen bringen, war bei Lehrern und Mitschülern beliebt und sogar mehrere Jahre lang Klassensprecherin. Doch es half alles nichts, man hänselte sie wegen ihrer Hautfarbe. Dann nahm sie schnell ihren Rucksack ab, warf ihn auf den Boden, die Schulsachen darin waren dann egal, egal war auch das Pausenbrot, das ihre Mutter ihr gemacht hatte, und fing notfalls mit dem jeweiligen Peiniger eine Schlägerei an. Ob Junge oder Mädchen spielte keine Rolle, denn in dem Moment hatte sie keine Angst. Sandra war schmächtig, sie war immer relativ klein und nicht besonders kräftig, aber wenn sie zuschlagen musste, tat sie das mit einer solchen Wucht, dass ihre Größe ihr geringstes Problem war. Nicht Tapferkeit trieb sie an, sondern Wut, die sie jahrelang zurückgehalten hatte.
Luis, der sitzen geblieben war und nun die Klasse wiederholte, sagte eines Tages in der Schlange zu der kleinen Sara, Affen wie sie gehörten in einen Käfig. Alle hörten es. Bis zu diesem Augenblick war Sandra froh gewesen, denn sie hatte gerade ihre Mathearbeit zurückbekommen, und sie hatte eine Eins Minus. Sie erinnert sich noch ganz genau daran. Doch durch diese Beleidigung löste sich ihre Freude in Luft auf.
Luis war älter und bis vor kurzem hatte Sandra ihn gemocht, denn er war blond, mit hellen Augen – die Gutaussehenden in der Schule sahen alle so aus. Sandra nahm Sara zur Seite, um ihr zu sagen, sie solle sich die Augen zuhalten, und ging dann entschlossen mit ausgestreckten Armen und Händen auf Luis los, um ihn an den Haaren zu ziehen. Seine Haare waren so kurz, dass es fast unmöglich war, ihn richtig zu packen, also begann sie mit ihren Händen wild drauflos zu schlagen. Zum Glück für Sandra war es für sie selbst so, als sei sie nicht ihren Körper, um die Wucht der Schläge nicht spüren zu müssen.
Wenn so etwas auf dem Pausenhof passierte, hörten die anderen Kinder zu spielen auf und kamen wie von einem Magneten angezogen dorthin, wo der Kampf stattfand. Sie bildeten einen Kreis und brüllten: „Schlä-ge-rei, Schlä-ge-rei!” Dieses Mal war es nicht anders, und zu den üblichen Sprechchören kamen unterstützende Zurufe für die beiden Schläger hinzu: „San-dra, San-dra!“, oder „Komm schon, Luis, schlag das schwarze Mädchen!” Sie hörte es wie in Zeitlupe und weiter Entfernung. Wie in einer Trance, die alles verlangsamt, selbst die Schläge, die der Andere erbarmungslos austeilte. Dann kam der Moment, in dem sie sich zusammenkauern und in die Hocke gehen musste. Der Kampf war verloren, doch sie zog es vor, sich zu schützen, statt aufzugeben, bis sie plötzlich die Stimme ihrer Freundin Lidia hörte, die laut rief: „In die Eier!” Und das tat sie. Ihr Bein schnellte nach vorne und sie trat ihm mit voller Wucht in den Schritt. Luis heulte auf und ging in die Knie, rang nach Atem. Sandra fühlte sich als Siegerin. Doch dann kam Marce, ihre Tutorin, eine drahtige, lebhafte Frau in ihren Sechzigern. Sie hatte schon so viele Schlägereien auf dem Pausenhof gesehen, dass sie einer solchen Rauferei der kleinen Biester kaum Beachtung schenkte. Sie beendete das Spektakel, das sich entwickelt hatte, und zerstreute die Menge. Um nicht zu dem Vorfall befragt zu werden, verteilten die Schüler sich schnell auf dem riesigen Pausenhof, der über einen Basketballplatz, ein kleines Fußballfeld, ein Betonfeld, auf der man sich beim Sturz fiese blauen Fleck zuziehen konnte, und eine Sandfläche, die jährlich sechs Monate lang aus Schlamm bestand, verfügte. Sandra und Luis landeten im Büro des Direktors, Don Ricardo. Der Mann mit dem harten Blick sprach mit ihnen wie mit Erwachsenen, auch wenn er deutlich machte, wer das Sagen hatte. Sein Tonfall machte ihnen Angst, noch mehr aber die Warnung, ihre Eltern anzurufen. Was er jedoch nie tat. Schließlich war das ja nur Kinderkram.
Man könnte sagen, dass Sandra dieses Mal gewonnen hatte. Doch es ging nicht um Sieg oder Niederlage. Tatsächlich hatte sie viele solcher Schlägereien verloren. Für das Kind Sandra sollten diese Kämpfe jedoch dem Zweck dienten, rassistische Aggressionen nicht ungestraft zu lassen. Das war das Gesetz des Schulhofes. Die Schläge würden ein Ende haben und das Leben würde weitergehen, als sei nichts geschehen. Doch an diesem Tag wusste Sandra, dass, wenn es jemals wieder jemand in Erwägung zöge, er es sich zweimal überlegen würde, sie oder ihre Schwester zu beleidigen.
Trotz allem wiederholten sich die rassistischen Angriffe. Das „Scheiß-Schwarze“ kam allzu leicht über die Lippen, selbst bei ihren besten Freundinnen. Diese verflixten Worte waren im tiefsten Inneren verwurzelt, versteckt in Staatsbürgerkunde oder Religionsunterricht. Wenn sie herauskamen, dann nur, weil sie da waren. Und so sehr sie es auch hasste, sich dieser Realität bewusst zu sein – Sandra nahm in Kauf, dass sie die Realität nicht ändern konnte.
Steckbrief und Übersetzung von Monika Kiermasch im Mentorat mit der Übersetzerin Lea Hübner
Beiträge zur spanischsprachigen Literatur
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Bildquelle
Lucía Asué Mbomio Rubio – https://ahoraeg.com/sociedad/modelo-de-mujer/2020/03/02/entrevista-a-lucia-asue-mbomio-rubio-periodista-y-escritora-afrodescendiente/
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