Werk – In seinem hier übersetzten Roman Pólemos (griech. für „Krieg“) wendet sich Turano einem historischen Stoff zu: Die Handlung spielt im Jahr 429 v. Chr., mitten im Peloponnesischen Krieg, im Athen unter Perikles, das von der Pest heimgesucht und vom spartanischen König Archidamos II. belagert wird. Es werden unterschiedliche Perspektiven auf das Kriegsgeschehen zusammengeführt. So etwa will das athenische Mädchen Myrrhina, die vor den Spartanern flieht, in ihre Heimat zurückkehren und dort die Ermordung ihrer Eltern rächen.
Proklos wiederum ist ein junger Krieger, der aufseiten der spartanischen Elitesoldaten kämpfen möchte, während es den Komödienschreiber Milon von Kroton auf der Suche nach Ruhm in das krisengeschüttelte Athen zieht.  

VITA – Gianfrancesco Turano (geb. 1962 in Reggio Calabria) arbeitet seit seinem Universitätsabschluss in Griechischer Literatur als Journalist. Er schrieb unter anderem für „il Mondo“, ein Wochenmagazin mit wirtschaftlichem Schwerpunkt, daneben auch für die bekannte Wochenzeitschrift „l’Espresso“ und die auflagenstarke Tageszeitung „Corriere della Sera“. Im literarischen Bereich hat er Dramentexte sowie mehrere Romane verfasst, etwa Ragù di capra (2005), Catenaccio! (2006) und den Feuilletonroman L’ultima bionda (2007). Später kamen noch Remedia Amoris (2009) und Fuori gioco (2012) hinzu. Im Jahr 2007 veröffentlichte Turano zudem Tutto il calcio miliardo per miliardo, eine Enthüllungsreportage über die aktuell im Fußball wirkenden Macht- und Finanzmechanismen.  
Werk – Die historischen Begebenheiten werden mit großer Anschaulichkeit und Lebhaftigkeit erzählt, vorkommende Ereignisse und Alltagsgegenstände sind minutiös recherchiert. Besondere Beachtung verdient jedoch der nüchterne und zugleich wuchtige, dem Sujet angepasste Schreibstil: Lange Perioden wechseln mit minimalistischen, pointierten Einwürfen, entlegene Wörter werden mit außergewöhnlichen Bildern und großer Suggestivität kombiniert. Leserinnen und Leser werden unweigerlich in den Strudel der Erzählung gezogen, zugleich aber kognitiv und imaginativ gefordert.    

Leseprobe – Erstellt und übersetzt von Nadine Fröhlich im Mentorat mit der Übersetzerin Dr. Ulrike Schimming

Deutsche Übersetzung


Πόλεμος πάντων μὲν πατήρ ἐστι, πάντων δὲ βασιλεύς, καὶ τοὺς μὲν θεοὺς ἔδειξε τοὺς δὲ ἀνθρώπους, τοὺς μὲν δούλους ἐποίησε τοὺς δὲ ἐλευθέρους.

Pólemos, der Krieg, ist Vater aller Dinge, König aller Dinge. Durch ihn haben sich die einen als Götter erwiesen, die anderen als Menschen. Er hat die einen zu Sklaven gemacht, die anderen zu Freien.

(Heraklit, fr. 53 Diels-Kranz)

I

Myrrhina

Am vierten Tag der Schiffreise versuchte sie zu schlafen. Ausgestreckt auf dem Holz der Brücke zwischen den Wasserkrügen, mit denen die Ruderer ihren Durst stillten, gelang es ihr jedoch nicht, die Hitze zu vertreiben, die ihr Körper von der Sonne aufgenommen hatte. Es schien ihr besser, sich in den Wind zu stellen, und so trat sie an die Steuerbordseite.

Die sturmgepeitschten Wellen zwischen Kap Tainaron und Kap Malea zogen sich bis Kythera und noch weiter in Richtung Kreta, mit kleinen Wellenkämmen, die nicht grau, nicht grün, nicht blau waren, sondern alle drei Farben in sich vereinten. Das Meer glich dem Reptil vom Nil, das ihr Vater ihr immer als Kind gezeichnet hatte.

Es war ein Untier mit Schuppenhaut, von göttlichem Atem angetrieben, bereit, die Körper der Sterblichen zu zerreißen, die seinen Atem störten – sie, die nur von wenigen Brettern Holz geschützt wurden, schwach und unendlich vermessen. Zwei wild dreinblickende Augen waren an die Seiten des Bugs gemalt. Er war zu einem Sporn gespitzt, der die Strömung unterhalb der Wasserlinie durchbohrte. Doch das flüssige Untier gischte und rückte von diesem metallummantelten Stoßzahn weg, ohne Schaden zu nehmen.

Myrrhina, die Athenerin, wusste, dass Frauen kein Schiff besteigen dürfen, das bedeutet Unheil. Bei Sklavinnen ist es Frevel. Sie war fünfzehn Jahre alt, ein Rotschopf, mit flacher Nase. Um sie herum waren nur Männer, alles Spartaner, alles Feinde. Bei jedem Wort in ihrem dorischen Dialekt kam ihr die Galle hoch, wie wenn die Seekrankheit ihr den Magen umdrehte.

Wenn die Seemänner gewusst hätten, dass sie eine als Mann verkleidete Kriegsgefangene war, hätten sie sie dem blaugrüngrauen Krokodil zum Fraß vorgeworfen. Sie waren ja schon ungehalten darüber, für eine so gefährliche Reise einen unerfahrenen Flötisten an Bord zu haben. Aber der Aulos-Spieler der Besatzung war am Tag vor der Abreise krank geworden. Noch am Abend war er tot. Seitdem sich die Nachricht von der Pest in Athen verbreitet hatte, achteten auch die Spartaner auf die Ausbreitung der Krankheit. In hektischer Eile hatten sie die Leiche an Land gebracht und den seltsamen Jüngling an Bord genommen, der nie auch nur ein Wort sprach.

Myrrhina hatte den Rhythmus der Seefahrt dadurch erlernt, dass der Schlagmann sein „Hooo-Rupp“ rief oder die nackten Ruderer ihre Kissen nicht mit Schweiß durchnässen mussten. Dann nämlich half ihnen entweder der Rückenwind oder der Raumwind, indem er das rechteckige Segel spannte.

Sie hatte Holz und Metall poliert. Sie hatte sich die Finger mit dem Gestank der Fischgedärme besudelt. Der Fisch wurde bei der gemeinsamen Mahlzeit serviert, für sie blieben nur die Köpfe. Sie leerte die Eimer der Latrine und bekam dabei Spritzer des Schmutzwassers ab, das die Wellen gegen die Seitenwand des Schiffes schmetterten.
  
Die Waffen befanden sich im Schatten unter einer Abdeckung. Schilde, Lanzen, Schwerter, Bögen, Brustpanzer, Beinschienen, dem Schienbein und dem Knie genau nachgebildet, glänzten durch das Öl, das man zum Schutz gegen das Salz aufgetragen hatte. Man verbot ihr, sie anzufassen. Darum kümmerten sich die Hopliten, die zehn Kämpfer der schweren Infanterie, die vom Ruderdienst freigestellt waren. Es oblag ihnen, das Metall zu schärfen, das die Sklaven abgebaut und die Handwerker verarbeitet hatten und mit dem die freien Bürger zur Verteidigung ihres Vaterlandes hantierten, nur um den Tod im Vaterland anderer zu verbreiten.

[…]

Myrrhinas Vater hieß Nikobulos und war Handwerker, ein Schreiner, den man dank der Handelsgeschäfte des Ehemannes seiner Schwester, eines Steuereintreibers im Hafen von Athen, in den Rang eines Mystagogen erhoben hatte. Er führte die Griechen in die Geheimnisse des ewigen Lebens ein, ohne zu fragen, ob sie aus Sparta, aus Argos oder aus Athen stammten, ob sie aus Sizilien oder aus Italien kamen, solange sie nur der Wunsch beseelte, nach dem Tod zwischen tausenden Schatten im Hades glücklich zu sein.

Auch wenn die Einweihung in die Mysterien Frauen und Sklaven offenstand, war es Sache des Adels, in die Kaste der Priester einzutreten, und wenige Tage vor der Invasion hatte Nikobulos seine Tochter einem fünfzigjährigen Witwer versprochen, für eine kärgliche Mitgift. Myrrhina hatte keine Geschwister und liebte ihren Vater abgöttisch. Mit gleicher Heftigkeit verachtete sie den Witwer, die Körper alter Männer, das eintönige Spinnen am Webstuhl im Dunkel eines Zimmers zwischen geschorener Wolle, noch schmutzig vom Fett der Schafe. Um der Ehe zu entgehen, hatte sie sich an ihren daímon gewandt. Sie hatte ihn kennengelernt, als sie ihr vierzehntes Lebensjahr vollendete. Der Schutzgeist hatte das erste Mal zu ihr gesprochen, als sie vor einem Spiegel stand: Du bist schön geworden, Myrrhina, und du wirst sterben.

Es war unangenehm, mit der Allgegenwart von etwas Übernatürlichem zu leben, doch Nikobulos hatte ihr gesagt, sie solle sich nicht fürchten. Dieser Bote des Erwachsenenalters, geschickt von den Olympischen Göttern, werde sich gemäß dem Willen oder gegen den Willen seiner Wirtin verhalten. 
Dem daímon hatte sie sofort ihre tiefe Abneigung gegen die Eheschließung anvertraut. Der Witwer stank nach nassem Hund, selbst bei strahlendem Sonnenschein, und sie hatte auch nicht den Wunsch nach eigenen Kindern. Ihr gefiel es, mit denen der anderen zu spielen und sie dann bei den Müttern schreien zu lassen.

Ihr daímon hatte sie auf grausame Weise erhört. Die Besetzer, die das Lambda von Lakedaimon auf dem Schild trugen, hatten die Häuser um das Heiligtum von Demeter und Kore dem Erdboden gleich gemacht. Unter den Truppen von König Archidamos gab es sicherlich welche, die in die Mysterien eingeweiht waren. Aber sie hatten Nikobulos nicht gefragt, wer er war. Myrrhina hatte gesehen, wie er mit der Hand auf seinen Eingeweiden am Boden lag. Ihre Mutter hatte sich in den Brunnen gestürzt, um nicht unter den Körpern der Soldaten enden zu müssen. Auch ihren zukünftigen Bräutigam hatten sie abgestochen, nachdem sie sich über sein Flehen lustig gemacht hatten: Wie schön du reden kannst, Athener, ein großer Denker musst du sein.

Myrrhina war in die Felder geflohen, aber das Gemetzel hatte sich durch einen Tropfen väterlichen Blutes an ihr festgeklebt. Der Fleck war zuerst dunkel geworden, dann eingetrocknet und hatte sich ihr in die Hand eingebrannt. Das Schandmal der Tat war unauslöschlich. Ihre getöteten Eltern irrten mit ihr umher. Sie forderten Rache und würden ihr keine Ruhe lassen.


Steckbrief und Übersetzung von Nadine Fröhlich im Mentorat mit der Übersetzerin Dr. Ulrike Schimming

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Das Projekt


Bildquelle:

Gianfrancesco Turano – https://www.pordenonelegge.it/autori/gianfranco-turano

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