Werk – Dieses Buch erweitert das Spektrum der zuvor erschienenen literarischen Ratgeber Giulio Mozzis. Es ist von zwei Profi-Schreibenden für andere Schreibende, aber auch für Vertreter:innen und Liebhaber:innen der Bildenden Künste verfasst. In diesem Buch geht es nicht darum, das Erzählen und seine Kategorien systematisch oder technisch zu erfassen. Es widmet sich vielmehr dem besonderen Bereich der Imagination und Vorstellungskraft. Im Zentrum steht die Frage, wie Schreibende durch ihre Erzählung bestimmte Bilder in ihren eigenen und den Köpfen der Leserschaft heraufbeschwören können. Mozzi und Durante lassen sich dafür von Werken und Künsten inspirieren, die in erster Linie das Auge ansprechen: Malerei, Fotografie, Bildhauerei, Architektur. Das Buch ist in sechs „Bewegungen“ unterteilt, die sich verschiedenen Themen widmen, etwa dem Verhältnis zwischen Autor:in und Erzählinstanz, den Figuren und Gegenständen der dargestellten Welt, dem Verhältnis zwischen Ereignissen, Raum und Zeit sowie der zum Schreiben förderlichen inneren Haltung. VITA – Giulio Mozzi (geb. 1960) arbeitete in den 1980er Jahren in der Pressestelle des Handwerkerverbandes von Venetien, in den 1990er Jahren war er Buchhändler in Padova. Seit 1997 ist er als Lektor tätig, unter anderem für Sironi Editore (2001–2008), Einaudi (2008–2014) und für Marsilio Editori (2014–2019). Im Jahr 2011 gründete er in Mailand die „Bottega di narrazione“, eine Schule für kreatives Schreiben. Er selbst ist Autor von Handbüchern und Ratgebern zum kreativen Schreiben, darunter Ricettario di scrittura creativa (2000) und l’Oracolo manuale per scrittrici e scrittori (2019). Daneben hat er zahlreiche Erzählbände sowie den Roman Le ripetizioni (2021) veröffentlicht. Seine erste Erzählsammlung Questo è il giardino (1993) wurde mit dem italienischen Literaturpreis „Premio Mondello“ ausgezeichnet. Valentina Durante (geb. 1975) lebt in Treviso. Nachdem sie sich zehn Jahre mit Trend- und Marktforschung beschäftigt und in diesem Bereich auch als Dozentin (u. a. am Politecnico di Milano) gearbeitet hat, ist sie nun freiberufliche Texterin bzw. Copywriterin. 2019 erschien ihr erster Roman (La proibizione), gefolgt von Enne im Jahr 2020. Da sie zudem großes Interesse für Fragen der Erzähltechnik hat, unterrichtet sie seit 2019 in der von Mozzi begründeten „Bottega di narrazione“. | Werk – „Immaginare le storie“basiert auf dem produktiven Zusammenspiel von visual arts und literarischer Kunst: Leserinnen und Leser werden von einem geschulten Auge zum inneren Sehen und zum Lernen von fremden Darstellungsweisen angeleitet. Das Buch gehört nicht zur klassischen Ratgeberliteratur, sondern liefert einen unmittelbaren Einblick in Mozzis „Erzählwerkstatt“. Der hier präsentierte Ausschnitt verdeutlicht diese besondere Mischung aus Kreativität und Innovation. |
Leseprobe – Erstellt und übersetzt von Nadine Fröhlich im Mentorat mit der Übersetzerin Dr. Ulrike Schimming
Deutsche Übersetzung
(Simultan-) Kontrast
Quelle: https://www.colorcube.com/illusions/scstripe.htm (abgerufen am 06.02.2023)
Das Rot der fünf Quadrate links ist nicht identisch mit dem der fünf Quadrate rechts: Das linke Rot ist dunkler, das rechte ist heller. Und das Grün der fünf Quadrate links ist nicht identisch mit dem der fünf Quadrate rechts: Das linke Grün ist dunkler, das rechte ist heller. So scheint es, aber es stimmt nicht. Es handelt sich um genau dasselbe Rot und um genau dasselbe Grün – sowohl was den Farbton betrifft, als auch was Sättigung und Helligkeit angeht. Das, was das Auge täuscht, ist der Hintergrund, auf dem sich die Quadrate befinden: Die roten Quadrate links auf gelben Streifen wechseln sich mit blauen Streifen ab, und die roten Quadrate rechts auf blauen Streifen wechseln sich mit gelben Streifen ab. Das Gleiche geschieht bei den grünen Quadraten. Dieser optische Effekt, der sogenannte „Simultankontrast“, zeigt uns, wie mehrdeutig der Satz „Ich sehe [etwas]“ tatsächlich ist. Für gewöhnlich bekräftigen wir damit, dass die realen Gegebenheiten unbestreitbar sind. Der Effekt des Simultankontrastes führt uns jedoch noch etwas anderes vor Augen: Das, was wir erleben, wird im Moment unseres Erlebens von all dem beeinflusst, was sich um uns herum befindet.
Auch in einem Text können wir Täuschungen durch bestimmte Gegenüberstellungen hervorrufen. Nehmen wir beispielsweise den Anfang des mehrfach ausgezeichneten Romans Der menschliche Makel von Philip Roth. Worum geht es? Kurz gesagt: Coleman Silk, Professor und Dekan einer Universität in Neuengland, wird durch einen haltlosen Rassismusvorwurf diffamiert und geht gezwungenermaßen in den vorzeitigen Ruhestand. Die Anschuldigung wird umso widersinniger, wenn wir erfahren – und das geschieht nach gut hundert Seiten –, dass Coleman weder jüdisch (wie uns erzählt wurde) noch weiß ist (wie wir angenommen haben). Coleman ist ein sogenannter „weißer N*“: Er stammt von Schwarzen Eltern ab und ist nach Generationen von ethnischen Mix-Ehen mit heller Haut geboren. Dass Coleman Schwarz ist, sagt uns der Erzähler nicht direkt. Es sind die Fakten, die uns von Enthüllung zu Enthüllung und von Dementi zu Dementi dazu bringen werden, die Vorstellung in Zweifel zu ziehen, die wir uns ab Seite eins von Coleman gemacht haben (Der menschliche Makel ist ein Roman, der sich ganz auf Figuren konzentriert, die nicht das sind, was sie zu sein scheinen, angefangen bei Coleman über seine Liebhaberin Faunia Farley bis hin zu seiner Kollegin Delphine Roux).
Es ist interessant festzustellen, wie Roth uns dazu bringt, ein Gerüst aus Annahmen zu bauen, das er dann im weiteren Verlauf des Textes mit Vergnügen Stück für Stück einreißen wird. Am Anfang des Romans tut uns der Erzähler sofort kund, dass Coleman Silk „Professor für klassische Literatur am nahe gelegenen Athena College“ und „Dekan gewesen war“. Wunderbar. Wir, die wir ihn uns aufgrund dieser wenigen Informationen vorstellen müssen, welches Bild machen wir uns von ihm? Unweigerlich das eines Weißen. Denn in den 1960er Jahren, in der Zeit, als
Coleman zu dozieren anfing, war es wahrscheinlicher, dass ein weißer Mann Professor für klassische Literatur werden und in einer US-amerikanischen Universität Karriere machen würde.
Die zweite Information, die Roth uns gibt, ist Colemans Alter – „einundsiebzig Jahre“ –, gefolgt von der Affäre, die er mit einer vierunddreißigjährigen Putzfrau hat. Faunia Farleys Aussehen wird uns äußerst detailliert beschrieben: „eine dünne, große, kantige Frau mit ergrauendem blondem, zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenem Haar und jener Art von herben Gesichtszügen, wie man sie gewöhnlich mit kirchenfrommen, hart arbeitenden Familienmüttern aus Neuenglands entbehrungsreicher Frühzeit verbindet […]“. Kurzum, genau so, wie man sich weiße Amerikaner vorstellt. Unsere Wahrnehmung von einem weißen Coleman verstärkt sich durch das Prinzip der Homophilie, das heißt durch die Tendenz, eine Beziehung zu Personen aufzubauen, die uns scheinbar ähneln.
An dieser Stelle verrät uns Roth eine dritte Sache. Nein, im Gegenteil, er verrät sie uns nicht, er lässt sie uns erahnen durch eine Parallele, nämlich der zwischen Coleman Silk und Präsident Bill Clinton: „Der Sommer, in dem Coleman mich über Faunia Farley und ihr gemeinsames Geheimnis ins Vertrauen zog, war passenderweise der Sommer, in dem Bill Clintons Geheimnis in allen demütigenden Einzelheiten enthüllt wurde […]“. Coleman und Clinton: Beide Amerikaner, beide einflussreiche Männer, beide in eine Beziehung mit einer jüngeren Frau verwickelt und beide aufgrund dieses Geheimnisses (wir argwöhnen nicht einmal, dass Colemans echtes Geheimnis ein anderes sein könnte) in einen Skandal verstrickt. Der Vergleich zwischen den beiden – das sagt uns der Erzähler – ist passend. Nun, wenn Bill Clinton weiß ist, welche Farbe wird dann die Haut von Coleman Silk haben? Roth braucht nicht mehr zu erzählen. Durch die Gegenüberstellung zweier Figuren, die einige gemeinsame Eigenschaften haben, wirkt ihre Ähnlichkeit wie ein Echo, das unsere Wahrnehmung beeinflusst, sodass wir andere Deutungen ignorieren, obwohl sie von anderen Details gestützt werden. So etwa fügt Roth nur ein wenig weiter unten eine zweite Parallele ein, eine enthüllende Gegenüberstellung, die aber (und hierin liegt die trügerische Raffinesse des Autors) schwächer als die vorherige ist: „In Neuengland war der Sommer des Jahres 1998 herrlich warm und sonnig, im Baseball war es der Sommer des mythischen Kampfes zwischen einem weißen und einem braunen Home-Run-Gott […]“.
Roth spielt damit, unseren anfänglichen Eindruck zu dekonstruieren. Es handelt sich um einen falschen Eindruck, ebenso wie auch die Wahrnehmung falsch ist, dass die fünf roten Qua-drate links anders wären als die fünf roten Quadrate rechts. Einen Roman-Plot – das wissen wir – konstruiert man mit der Verkettung von Ursachen und Folgen. Wir dürfen allerdings die Macht der Assoziationen nicht unterschätzen: Sie können uns dabei helfen, unsere Geschichte reicher, vielseitiger und überraschender zu gestalten.
Steckbrief und Übersetzung von Nadine Fröhlich im Mentorat mit der Übersetzerin Dr. Ulrike Schimming
Beiträge zur italienischen Literatur
Beiträge zu anderen romanischen Sprachen
Bildquelle Autoren:
Giulio Mozzi – https://www.poesiadelnostrotempo.it/il-mondo-vivente-di-giulio-mozzi/
Valentina Durante – https://ilrifugiodellircocervo.com/2020/11/06/nella-mente-della-scrittrice-1-valentina-durante/
Comments are closed