Werk – Ein ungeklärtes Familienerbe, zwei Verbrechen, drei Generationen – ein Privatdetektiv ermittelt zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Beauftragt von der Tochter, soll er das Rätsel um eine mysteriöse Hinterlassenschaft ihres ermordeten Vaters lösen. Das Todesopfer selbst war Polizist und zu Lebzeiten einem Verbrechen gegen das Kulturgut auf der Spur. Auf zwei Erzählebenen schildert Carlos Fortea die Ermittlungen vom ermordeten Polizisten aus der Vergangenheit und dem beauftragten Privatdetektiv in der Gegenwart und führt die vermeintliche Zweiteilung von Aktualität und Geschichte somit auch auf formaler Ebene fort. Doch schnell stellt sich heraus, dass die Verbrechen dunkle Geheimnisse ans Licht bringen. Ein mitreißender Roman, der aufs Neue lehrt: nichts ist vergänglich. VITA – Carlos Fortea Gil, geboren 1963 in Madrid, ist seit 1986 vereidigter Übersetzer aus dem Deutschen. Anfangs noch spezialisiert auf juristische Texte, umfasst sein übersetzerisches Gesamtwerk heute große deutsche Klassiker, unter anderem Titel von Alfred Döblin, Franz Kafka und Stefan Zweig. Der promovierte Germanist und Universitätsprofessor ist seit über 20 Jahren in der Hochschullehre tätig. Aktuell unterrichtet er im Studiengang Übersetzen und Dolmetschen der Universität Complutense in Madrid. Er ist außerdem Autor von sechs Romanen, darunter vier Jugendromane (Impresión bajo sospecha, 2009; El diablo en Madrid, 2012; El comendador de las sombras, 2013; A tumba abierta, 2016). Los jugadores (2015) und El mal y el tiempo (2017) hingegen zählen zur Erwachsenenliteratur. | Werk – Erneut gelingt es Carlos Fortea mit A tumba abierta keinen Krimi, sondern einen Jugendroman mit Krimi-Elementen zu schreiben. Er vereint Historisches mit Düsterem und rundet dies mit einer Detektivgeschichte ab. Das Zeitreisen durch die Familiengeschichte der Auftraggeberin und ihres Vaters, welches mit jedem Kapitelwechsel initiiert wird, fordert nicht nur junge Menschen, sondern regt auch das erwachsene Publikum zum Mit- und Nachdenken an. Ein Roman, der alters- und zeitlos ist. |
Leseprobe – Erstellt und übersetzt von Lea Florentine Kaast im Mentorat mit der Übersetzerin Lea Hübner
Deutsche Übersetzung
Die Tür hatte einen goldenen Türklopfer mit einem Drachenkopf, der seine Zunge in ein Tintenfass steckte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich mit der Originalität dieser Erfindung abzufinden und sich zu fragen, was für Dinge der goldene Drache wohl mit seiner Zunge zu schreiben gedachte.
Oder welche Art von Ideen wohl im Schädel des Hausbesitzers wohnten. Jorge Riesco, der den Umgang mit allen möglichen Sonderlingen gewohnt war, griff nach dem Kopf des heraldischen Tieres und schlug mit dessen Kiefer gegen die Metallplatte des Klopfers.
Das Bellen eines Wolfshundes war zu hören und einen Augenblick später fragte eine Stimme:
„Wer stört meine Siesta?“
Nach der Magie der Bilder, nun die der Worte, dachte Riesco. Er ließ keine weitere Zeit für Träumereien:
„Polizei“, sagte er.
Für einen Moment war Stille, die betretene Stille, die immer auf das Zauberwort folgte und die Tür wurde geöffnet.
Auf der Türschwelle stand ein Mann fortgeschrittenen Alters. Sein Umriss hob sich ab von einem dunklen Licht, das man kaum Licht nennen konnte. Es war offensichtlich, dass er gerade erst aufgestanden war. Dennoch verriet die Frische in seinem Gesicht, dass er einen kurzen Umweg übers Bad genommen haben musste. Wenn er sich nicht das Gesicht gewaschen hatte, dann wenigstens für eine kurze Katzenwäsche.
„Señor Molina?“, fragte Riesco.
„Ja.“
Immerhin. Er hatte ein Wort gesagt. Besser als nichts.
„Polizei.“
„Das sagten Sie bereits.“
Riesco spielte mit dem Gedanken, ihm zwei Ohrfeigen zu verpassen und wegen Missachtung der Obrigkeit festzunehmen, aber er hielt sich zurück.
„Sind Sie der Küster?“
„Ja.“
„Ich komme wegen des Diebstahls.“
„Ist das nicht Aufgabe der Guardia Civil?“
Der Polizist merkte, wie es ihm allmählich reichte.
„Holen Sie die Schlüssel und öffnen Sie die Kirche“, befahl er trocken.
Der Alte erfasste den Ton der Aufforderung und verschwand im Inneren des Hauses, während er unverständliche Ausdrücke vor sich hin brummte, jedoch keine Widerworte gab. Er kam mit einem Schlüsselbund zurück, der aussah wie aus einem Piratenfilm.
„Kommen Sie“, sagte er.
Ihr Weg führte mitten durch Hitze und Stille. Der Polizist fragte sich, wo wohl der bellende Hund sein mochte, bis er schließlich beschloss, dass ihn nicht alles, was um ihn herum geschah, interessieren musste.
Sie liefen auf das Gotteshaus zu. Das Gebäude war aus Stein, nicht allzu groß, und wahrscheinlich gegen Ende des 17. Jahrhunderts erbaut. Es schloss mit mehreren Schieferkuppeln ab und neben ihm ragte ein schwarzer Glockenturm in die Höhe.
Die Fassade wies kaum Verzierungen auf. Als sie an der kleinen Holztür ankamen, die in das große Haupttor eingelassen war, nahm der Küster einen der alten Schlüssel und drehte ihn mit krächzender Bewegung in dem rostigen Schloss.
Ein kalter Luftzug, den der Polizist in der sich stauenden Hitze dankend annahm, kam ihm aus dem Kirchenschiff entgegen.
Die Kirche war relativ hell. In dem Zeitalter der Buntglasfenster und hohen Kuppeln erbaut, verfügte sie über viele Öffnungen, durch die Licht einfallen konnte. Riesco wartete nicht erst auf irgendwelche Anweisungen des Küsters, sondern ging direkt durch das Mittelschiff zum Hauptaltar.
Vor der ersten Stufe blieb er stehen und bückte sich.
Er hatte nicht etwa vor zu beten. Auf den Fliesen vor dem Altar lagen, auf den ersten Blick wie zufällig verstreut, einige mehrfarbige Kupferstiche mit verschiedenen Szenen des Totentanzes. Eine Menge von mit Trompeten und Pauken ausgestatteten Skeletten, die offenbar das Jüngste Gericht einberiefen. Eines war als Narr verkleidet und schleifte eine Gruppe von Frauen über den Boden. Ein anderes entriss einem König die Krone. Und andere mehr.
„Eine schwarze Messe“, sagte der Küster geheimnisvoll.
Riesco hob für einen Moment den Blick. Noch nie in deinem Leben hast du eine schwarze Messe gesehen, dachte er.
Er selbst hatte tatsächlich schon einmal eine gesehen, vor drei Jahren. Schweineblut, zertretene Hostien, gewaltsame Rituale. Nein, das hier hatte nichts mit einer schwarzen Messe zu tun.
„Ich nehme an, Sie haben schon mit dem Priester gesprochen, richtig?“
„Ich habe die Erlaubnis des Bischofs“, entgegnete Riesco, ohne aufzuschauen.
„Ich will nur keinen Ärger, ja? Mal sehen, ob…
„Seien Sie jetzt doch mal still“, befahl der Polizist.
Er richtete sich auf. Die Tür zur Sakristei stand offen. Dem vorläufigen Bericht zufolge musste der Diebstahl sich dort ereignet haben. Es waren Bücher von hohem Wert und andere unbekannte Dokumente gestohlen worden. Wie auch in anderen Kirchen und alten Gebäuden der Fall, hatten die Eigentümer nicht den blassesten Schimmer, was sie besaßen.
Die Kupferstiche, die auf den Boden gefallen waren, gehörten zu einem der Bücher. Wertvolle Stiche, deren Fundort beim Altar entweder von einer überstürzten Flucht oder von der Unkenntnis ihres Wertes zeugte. Er wandte sich erneut an den Küster.
„Und Sie sind sicher, dass Sie hier nichts berührt haben, ja?“
„Also nochmal“, beschwerte sich der Alte, „genau das gleiche wie bei der Guardia Civil. Ich sagte doch, ich öffnete die Kirche, sah das alles verstreut und die Sakristei offen und rief auf dem Revier an. Was wollen Sie denn noch hören?“
Der Anblick, den die Sakristei bot, war typisch für so einen Fall. Aus den Vorrichtungen gerissene Schubladen, liturgische Gewänder und Papiere überall auf dem Boden verteilt. Hinten der Schrank, aus dem die Bücher genommen worden waren.
Ein Schrank mit Glastüren mit einfachem Messingschlüssel.
Es war kaum etwas drinnen geblieben. Obwohl die Kollegen der Guardia Civil schon nach Fingerabdrücken gesucht hatten – ohne Erfolg –, blätterte Riesco die wenigen zurückgelassenen Bände durch, um zu schauen, ob sich zwischen ihren Seiten nicht doch irgendetwas Nennenswertes befand. Dem war nicht so.
Gerade wollte er den Raum verlassen, als er etwas auf dem Boden schimmern sah.
Er bückte sich. Neben dem Schrank schauten die Reste einer plattgedrückten Erdbeere hervor. Sie war zu zwei Dritteln zerquetscht, wobei ein Teil immer noch die ursprüngliche Form und den Glanz der Frucht aufwies.
Es war eindeutig, dass sie von einer Schuhsohle abgefallen war. Mit gerunzelter Stirn ging Riesco zur geöffneten Tür zurück.
„Kann ich schon zumachen?“
Riesco hörte nicht zu. Anstatt die Frage zu beantworten, fragte er selbst.
„Wie viele Ausgänge hat die Kirche?“
Der Alte schloss die Sakristei mit einem Ruck, als wollte er seinen Unmut über die unbeantwortete Frage zum Ausdruck bringen.
„Drei. Der, durch den wir hereingekommen sind und jeweils eine kleine Tür an den Seiten des Mittelschiffs.“
„Machen Sie sie auf.“
„Können wir nicht dort raus, wo wir hereingekommen sind?“
Diesmal genügte ein Blick von Riesco und der Alte ließ das Diskutieren sein.
Die erste Tür führte zu einer Seitenstraße. Der Polizist zog sie direkt nach dem Öffnen wieder zu, gefolgt von weiterem Brummen des Küsters.
Die andere führte zu einem Feld. Einem grünen Feld mit niedrigen, von Menschenhand aneinandergereihten Pflanzen.
„Was wird hier angebaut?“, fragte der Polizist.
„Na, was wird hier wohl angebaut“, antwortete der Küster. „Erdbeeren. Alle Dörfer in dieser Gegend bauen Erdbeeren an.“
Riesco nickte leicht. Er bückte sich, um das Schloss zu untersuchen.
„Wird diese Tür oft geöffnet?“, fragte er.
„Eigentlich wird sie so gut wie nie geöffnet“, antwortete er scharf.
Dann wurde sie vor kurzem geöffnet, dachte Riesco, während er mit dem Daumen über die Einkerbungen um das Schloss fuhr. Und zwar mit einem Dietrich von stattlicher Größe.
Ohne ein Wort, ging er geradewegs auf das Erdbeerfeld zu. Er hätte jede Furche des Feldes auswählen können, doch er wählte schlichtweg die naheliegendste: diejenige, die direkt zur Tür führte.
Die ersten Pflanzen waren zertrampelt. Auf dem Boden waren viele Fußabdrücke. Riesco fühlte sich vom Küster beobachtet, während er gekrümmt zwischen ihnen hin und her lief und mit den Augen von rechts nach links den Boden absuchte. Er blieb kurz stehen, um sich die Jacke auszuziehen. Es war warm.
„Soll ich Ihnen helfen?“, erreichte ihn die Stimme des Alten.
Du sollst deinen Mund halten, dachte Riesco, aber er sagte nichts und verfolgte weiter wie ein Jagdhund die Spuren zwischen den Erdbeeren. In Gedanken stellte er fest, dass die Abdrücke von mehreren Personen stammen mussten. Mindestens eine von ihnen musste Sportschuhe getragen haben – die unverkennbaren Streifen der Sohle zeichneten sich perfekt auf der weichen Erde des Feldes ab. Den Fußabdrücken nach zu urteilen waren sie weggerannt, denn sie zeigten mehr Spitze als Ferse. Das würde auch den ersten Gedanken bestätigen, dass die Kupferstiche nicht absichtlich beim Hauptaltar gelegen hatten, sondern beim Weglaufen heruntergefallen waren.
Sie waren unerfahren, waren gerannt, dachte Riesco, sich der Tatsache bewusst, dass er bei seinen Schlussfolgerungen bereits zu viel spekulierte und dies immer im Chaos endete. Doch er konnte seine Gedanken nicht aufhalten. Die Flucht über ein Feld zu ergreifen, ohne daran zu denken, dass genau dies der Ort war, an dem sie Spuren hinterlassen konnten. Es war so absurd, dass nicht einmal die Kollegen der Guardia Civil daran gedacht hatten. Sie hatten einen kurzen Bericht verfasst und die Information an die Denkmalschutzbehörde weitergeleitet, welche wegen der Nähe zu Madrid um die Mitarbeit der Hauptstelle gebeten hatte. Es war mehr als wahrscheinlich, dass sich die entwendeten Objekte bereits in der Hauptstadt befanden.
Er musste einen Spurensicherungsbericht anfordern, um die genauen Daten zur Anzahl der Diebe und ihrer Schuhgrößen zu bekommen. Es waren nur wenige Meter bis zur Straße, wo die Spuren sich verliefen, da mit großer Wahrscheinlichkeit ein Auto auf die Diebe gewartet haben musste. Er drehte sich um und betrachtete den Weg, den er mit großer Vorsicht zurückgelegt hatte.
Der Alte war hinter ihm.
„Was machen Sie denn da?“, schrie er.
„Wie, was mache ich?“
Um sich ja nichts von dem, was der Polizist tat, entgehen zu lassen, war der Küster ihm direkt gefolgt und hatte die gefundenen Spuren verwischt. Riesco spürte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg.„Verschwinden Sie von hier! Ab nach Hause, gehen Sie mir aus den Augen!“
Steckbrief und Übersetzung von Lea Florentine Kaast im Mentorat mit der Übersetzerin Lea Hübner
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Bildquelle:
Carlos Fortea Gil – Vom Autor zur Verfügung gestellt.
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